Mit dem Ende der Ära Merkel endet einstweilen auch die Prägung der aus dem Kanzleramt dirigierten Kulturpolitik durch die CDU – eine 16-jährige Geschichte voller Überraschungen und steilen Lernkurven für alle Beteiligten. Die Schaffung eines „Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ durch die rot-grüne Regierung Schröder im Winter 1998 sollte der Berliner Republik intellektuellen Glanz, kritisches Geschichtsbewusstsein und philosophische Begleitmusik verschaffen. Schröder wollte anknüpfen an die Zeit vor Helmut Kohl, als es zwischen Sozialdemokratie und Kulturszene enge Bande gab. Die Besetzung mit dem Kosmopoliten und Rowohlt-Verleger Michael Naumann, dann dem Philosophen Julian Nida-Rümelin und schließlich der Literaturwissenschaftlerin Christina Weiss setzten da mehr oder weniger gelungene Zeichen.
Umso größer war in der Kulturszene der Schrecken, aber auch Spott und Hohn, als die 2005 mit sehr knappem Vorsprung gewählte neue CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den Platz der Philosophen im
6. Stock ihres Hauses einen Mann setzte, dem erklärtermaßen jede Ambition in Richtung eines geistig-moralischen Vordenkers abging: dem Bremer CDU-Lokalpolitiker und gelernten Realschullehrer Bernd Neumann.
Die Befürchtungen kreisten nicht nur um Stilfragen. Neumann, ein Verehrer und Freund Helmut Kohls, stand zunächst auch im Verdacht, der Berliner Republik – die sich über ihre Rolle in Europa und in der Welt ebenso wenig sicher war wie über ihre „Leitkultur“ – ein Geschichtsbild verpassen zu wollen, das revisionistisch und konservativ geprägt war. Obendrein legte der joviale Neumann eine Vergnügtheit und pragmatische Aufgeräumtheit an den Tag, die man im deutschen Kulturbetrieb nicht so kennt und nicht schätzt; zu gute Laune gilt als Ausweis von Oberflächlichkeit und mangelnder Sensibilität. In seiner ersten Pressekonferenz scherzte der mit einer Rolex, Blazer und Einstecktuch angetane Neumann, er plane, länger im Amt zu bleiben als seine Amtsvorgänger. Niemand lachte.
Aber der Spott über die Ungelenkheit verstummte sehr schnell, als sich zwei Dinge herausstellen sollten, die bis in unsere Tage und die Ära Monika Grütters charakteristisch für die Kulturpolitik der CDU waren. In dem Bewusstsein, dass man einander vermutlich fremd bleiben würde – die Künstler und die Christdemokraten – versuchten die beiden CDU-Amtsinhaber gar nicht erst, irgendeine Art von Diskurshoheit zu erlangen. Ihr Bestreben ging vor allem in eine Richtung: der Kultur so viel Aufmerksamkeit, Relevanz und vor allem schlicht und ergreifend Geld wie irgend möglich zu verschaffen.
Darin waren beide, Neumann wie Grütters, extrem erfolgreich, und niemand aus der Szene bestreitet das. In Zeiten knapper Kassen, mit denen Neumann während der Finanzkrise oder Grütters in der Coronapandemie zu kämpfen hatte, war der enorme „Aufwuchs“ des Budgets – in Neumanns Fall insgesamt wuchtige zehn Prozent, speziell der Filmförderung, bei Grütters dann um sechzig Prozent auf 2,1 Milliarden Euro – sowie auch des Personals von inzwischen 380 Beschäftigten keine kleine Leistung. Beiden gelang es auch, die misstrauischen Länder zu beruhigen, die einen Eingriff in ihre Hoheitsrechte nicht schätzen, aber die Förderung ihrer Kulturstätten dann schon.
Neumann aber gelang auch auf ideellem Terrain ein leiser, aber bedeutsamer Durchbruch. Sein Ergebnis kann man heute am Anhalter Bahnhof sehen: Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung gehört zu den gelungensten Ausstellungen der Republik.
Es ist heute nicht mehr so einfach, zu würdigen, welche Rolle in den frühen 2000er Jahren die Geschichtspolitik spielte. Eine zentrale Frage dabei war immer, wie sich die große christdemokratisch-konservative Volkspartei zur deutschen Vergangenheit stellen würde – ob sie in ihren Reihen relativierende Stimmen dulden würde oder eben nicht (mehr). Die Debatte um das Holocaust-Mahnmal im Zentrum der Bundeshauptstadt, der Ausschluss des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann aus der Unionsfraktion durch die Parteivorsitzende Angela Merkel wegen einer antisemitischen Rede oder eben der Streit um ein „sichtbares Zeichen“ für das Leid, das Flucht und Vertreibung verursacht haben, sind nur ein paar Beispiele. An allen drei Themen kann man die Wegstrecke ermessen, die auch innerhalb der CDU zurückgelegt wurde. Nicht mehr viele werden sich beispielsweise erinnern, dass der frühere Regierende Bürgermeister Berlins, Eberhard Diepgen von der CDU, damals vor dem Holocaust-Mahnmal warnte, dadurch könne Berlin zu einer „Hauptstadt der Reue“ werden – eine Bemerkung, die heute in der AfD verortet würde und in der CDU undenkbar ist. Man kann sagen, dass die CDU in der Kulturpolitik auch den eigenen Wandel organisiert hat. Am Beispiel der Vertriebenen-Debatte lässt sich das besonders plastisch demonstrieren.
Bernd Neumann, dessen dreiköpfige Familie selbst im Winter 1945 mit einem Flüchtlingstreck aus Westpreußen in die Lüneburger Heide gezogen war, hatte sich jahrelang gewissermaßen auf Zehenspitzen um die Moderation der innerdeutschen – und innerparteilichen – Debatte und die Bedenken aus dem Ausland in Sachen „Zentrum gegen Vertreibungen“ bemüht.
Die Idee stammte von seiner damaligen Parteifreundin, der langjährigen Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach, die inzwischen aus der CDU ausgetreten ist und der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung vorsteht. Steinbach hatte sie schon 1999 aufgebracht.
Als Bundestagsabgeordnete hatte Erika Steinbach gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie gestimmt und bis zu den Recherchen polnischer Journalisten verheimlicht, dass ihre Familie erst mit der NS-Besatzung nach Polen gekommen war. Nicht zuletzt deshalb erregte das Projekt in Polen, Ungarn oder Tschechien den Verdacht, hier sollten deutsche Opfer aus dem Kontext des Vernichtungskriegs gelöst, die deutschen Verbrechen relativiert und womöglich Restitutionsansprüche begründet werden. Weil Steinbach klar war, dass diese Vorgeschichte es ihr unmöglich machen würde, das Projekt allein zu lancieren, holte sie den SPD-Vordenker Peter Glotz ins Boot, der selbst einer Vertriebenen-Familie entstammte.
All das brachte die in den eigenen Reihen umstrittene Kanzlerin Angela Merkel in eine schwierige Lage. Steinbach und die Kanzlerin waren in den ersten Jahren von Merkels Regentschaft eine für beide Seiten vorteilhafte Arbeitsbeziehung eingegangen – mit ihren Auftritten bei Jahrestagen des Vertriebenenbunds verschaffte die Kanzlerin dem Bund der Vertriebenen (BdV) Legitimität, während Steinbach die konservativen Kritiker der Kanzlerin beruhigte. Die „Entente cordiale“ endete in der Finanzkrise 2008, als Merkel den Zusammenhalt mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk nicht gefährden wollte. Steinbach zog sich freiwillig aus dem Stiftungsrat zurück und geriet innerhalb der eigenen Reihen immer mehr in die Isolation.
Die CDU, in der die Vertriebenen über lange Strecken der Nachkriegszeit auch mit revanchistischen Positionen laut und vernehmlich gewesen waren, hatte sich verändert. Das Bild von den Vertriebenen, das im 2021 eröffneten Zentrum präsentiert wird, ist nicht nur diverser als früher, weil nun auch die Geschichten der Boat People oder der bosnischen Muslime präsent sind. Neben Zeugnissen ihrer Trauer und ihres Verlustes erscheinen die Vertriebenen hier nicht mehr länger nur als Opfer – sondern auch als Agenten der Modernisierung der Bundesrepublik.
Als Monika Grütters das Amt der Kulturbeauftragten antrat, waren diese Fragen weitgehend geklärt. So öffnete sich ein neuer Raum: Kulturpolitik als eine Art staatliches Hauptstadt-Mäzenatentum. Das Geld floss in Strömen, siehe oben. Die ehemalige Studentin der Kunstgeschichte, die an der Oper Bonn, im Berliner Verkehrsmuseum, der Buchhandelsgesellschaft und als Honorarprofessorin für Kulturmanagement gewissermaßen „aus der Branche“ kam und sich zum liberalen „Merkel“-Flügel der Union zählte, bekannte sich stets sowohl zur zivilisierenden als auch zur repräsentativen Rolle der Kultur. Die Förderung von Projekten gegen Rechtsextremismus und Rassismus war der CDU-Präsidin ebenso eine Selbstverständlichkeit wie der – mit ursprünglich 130 Millionen Euro veranschlagte, inzwischen bei einer Kostenprognose von 600 Millionen – als völlig überteuert kritisierte Prunk-Neubau des Berliner Museums des 20. Jahrhunderts. Andere Großprojekte sind und bleiben umstritten: das wieder eröffnete Humboldt Forum oder die Reform der alles überwölbenden Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die im Zentrum einer neuen Kolonialismusdebatte steht und in vielen ihrer Museen viel zu niedrige Besucherzahlen vorzuweisen hat. Wozu überhaupt »Preußen« noch als Klammer der Berliner Kulturpolitik?
In einem Aufsatz für die „ZEIT“, den Grütters kürzlich gemeinsam mit ihrem Parteifreund, dem Musikmanager Joe Chialo, als Antwort auf einen Text des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und des SPD-Kulturpolitikers Carsten Brosda verfasste, werden ein paar Grundpfeiler der CDU-Kulturpolitik deutlich. Wo Brosda und Scholz einen „Schulterschluss zwischen Politik und Kultur, zwischen Macht und Geist“ fordern, zitieren Grütters und Chialo Friedrich Schiller: „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“. Der Vorwurf der SPD, Kultur habe sich in der Vergangenheit zu oft „auf die reine Ästhetik reduziert“, weisen Grütters und Chialo zurück. Die Kunst sei frei, wenn sie sich – hier ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der FDP – „weder einer reinen Marktlogik beugen, noch in den Dienst eines politischen Anliegens, einer Weltanschauung oder Ideologie stellen muss“.
Zu diesen erfreulich undogmatischen Gedanken gesellt sich dann zwar auch die Forderung nach einem „Gesellschaftsvertrag“, die zu der vorher proklamierten ästhetischen Unabhängigkeit der Kunst nicht so recht zu passen scheint. Grütters spricht gar von der Demokratie als einem „Fall für die Intensivstation“, der „ständiger Beatmung“ durch die Kultur bedürfe. Die CDU wird in den kommenden Jahren als vermutliche Oppositionspartei reichlich Gelegenheit haben, einmal tief Luft zu holen und diese Ideen in Ruhe Revue passieren zu lassen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2021-01/2022.