Frei denken, frei reden, frei schreiben – diese großartige Freiheitsgarantie unseres Grundgesetzes wird gerade dazu genutzt, sie buchstäblich mit Füßen zu treten. „Spaziergänger“ behaupten, in einer Diktatur zu leben und fordern Freiheit und Wahrheit. Sie fordern also etwas, das sie längst haben und nutzen. Fakten aber spielen keine Rolle. Die Wut marschiert in der Überzeugung, den Volkswillen zu repräsentieren und unmaskiert die Wahrheit zu verkünden. Dieser Irrtum ist verführerisch naheliegend, denn tatsächlich stellen sich ihnen nur wenige in den Weg und handeln sich dafür, so wie die engagierten Medizinstudierenden in Dresden, sogar Ordnungsstrafen ein, während den eigentlichen Rechtsbrechern oft mit verständnisvoller Nachsicht begegnet wird. Selbst der Bundespräsident adelt Wahrheitsleugner durch eine Gesprächseinladung ins Schloss Bellevue und beschränkt sich auf die vornehme Rolle des freundlichen Gastgebers. Die Wutbürger sollen nicht noch wütender werden. Was auf den ersten Blick sympathisch nach Gräben überwinden statt vertiefen klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Beliebigkeit, die die Grenze zwischen Fakten und Fälschung, zwischen Wahrheit und Lüge gefährlich verwischt. Nicht alles lässt sich so oder auch anders sehen. Die Erde ist keine Scheibe, Menschen waren auf dem Mond, 9/11 war ein islamistischer Anschlag und bei SARS-CoV-2 handelt es sich um eine tödliche Pandemie, gegen die eine Impfung hilft. An all dem können Menschen natürlich trotzdem zweifeln, privat, am Stammtisch und auch auf der Straße. Einzig der Holocaust darf nicht öffentlich geleugnet, durchaus aber relativiert werden. Also heften sich Impfgegner unbehelligt einen gelben Stern ans Revers. Auch daran wird deutlich, dass der Furor längst nicht mehr – und schon gar nicht allein – den politischen Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie gilt.
Über Für und Wider der Einführung einer Impfpflicht lässt sich streiten, und wird ja auch, aber der „Widerstand“ dagegen ist zu einem amorphen Ressentiment gegen „das System“ geworden, gegen „die Bevormundung“ durch „die Eliten“. Das wird das Virus überleben. Zu groß ist der Reiz, sich im Wohlfühlbad einer imaginierten Volksgemeinschaft mit Gleichgesinnten zu suhlen. Die Angst vor den Zumutungen einer sich wandelnden Welt verbindet sie. So wie es war, so soll es wieder werden. Eine Welt ohne Virus und ohne Veränderung und vor allem ohne Vorschriften für das eigene Leben.
Die Wut steckt an und je harmloser sie daher spaziert kommt, mit Trommeln und Tanz, umso mehr infizieren sich und laufen begeistert mit. Auf der Straße, im Netz, im Geiste. Prominente sind darunter, Künstler wie der Schauspieler Volker Bruch etwa, der jetzt mit seinem YouTube-Kanal #allesaufdentisch Corona-Schwurblern eine Heimat bietet. Offene Antisemiten wie der vegane Koch Attila Hildmann gehören dazu und selbst ein emeritierter Professor bemüht sich Fakten bekömmlich zu relativieren. In seinem Fall die der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der Historiker Wolfgang Reinhard fordert in einem Beitrag in der FAZ nicht weniger als „das Recht auf Vergessen“ und „die natürliche Entemotionalisierung“ des Holocaust. Da schmunzelt der Alexander-Vogelschiss-Gauland. Die Sehnsucht der Deutschen nach Erlösung durch den Tod der jüdischen Zeitzeugen hatte der Auschwitz-Überlebende, der Schriftsteller Jean Améry schon 1966 schmerzhaft präzise beschrieben: „Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.“ Es hat länger gedauert als gedacht, bis der Versuch, die Shoah umzudeuten zu „Geschichte schlechthin, nicht besser und nicht übler als es dramatische historische Epochen nun einmal sind“ (Améry) gesellschaftlich akzeptabel wurde. Wo Nolte noch einen Historikerstreit entfachte, herrscht heute weitgehend Schweigen. Einmal mehr sind es vor allem jüdische Stimmen, die ihm und auch jenen ins Wort fallen, die die Singularität des Holocaust schleifen wollen, um vermehrt die Verbrechen der Kolonialgeschichte ins Schaufenster des kollektiven Gedächtnisses stellen zu können. „Unsere Nachträgerei wird das Nachsehen haben“, hatte Améry prophezeit. 80 Jahre nach der Wannsee-Konferenz wird die Shoah aus unterschiedlichen Gründen, letztlich mit demselben Ergebnis relativiert.
Eine Demokratie darf es nicht zulassen, dass alles beliebig wird, Fakten und Ethik gleichermaßen. Die Zahl der Anhänger einer Idee reicht noch lange nicht, um sie zu legitimieren. Mehrheiten können irren und falschen Parolen glauben. Gerade Deutsche sollten sich daran erinnern. Realitätsverweigerung ist Angstabwehr und ein weltweites Phänomen. In Deutschland aber ist sie in besonderer Weise historisch aufgeladen. Querdenker und Spaziergänger haben Zulauf aus allen Milieus. Und gerade, weil sie sich nicht unisono augenscheinlich politisch rechts eingruppieren lassen, weil die Debatten in Familien und im Freundeskreis eskalieren, wird die Warnung vor der Spaltung der Gesellschaft lauter.
„Ein moralisches Tabu erzeugt automatisch eine entsprechende moralische Gegenerzählung“, droht Professor Reinhard kaum verhohlen. Erinnerung an die Shoah erzeugt Antisemitismus? Wer den Faktenleugnern entgegentritt, macht sie stark?
Spaltung durch Haltung? Nein, im Gegenteil! Jetzt kommt es darauf an, den gesellschaftlichen Konsens darüber zu erstreiten, was den Gehalt unserer Demokratie ausmacht. Wo verlaufen die roten Linien? Das berauschende Machtgefühl der Ohnmächtigen speist sich aus der spürbaren Angst und dem Zurückweichen der „Eliten“ vor ihnen und ihresgleichen. Es ist die Aufgabe der demokratischen Mehrheit, klarzumachen, dass die Demokratiefeinde in der Minderheit sind. Lautstark, fair und unmissverständlich. Wer dagegen mit Verschwörungsgläubigen, die die Demokratie und „die Systemmedien“ verhöhnen, auf Augenhöhe diskutieren will, kriecht unweigerlich vor ihnen zu Kreuze. Schon Erich Kästner warnte: „Was immer auch geschieht, nie sollt ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken!“.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.