Nächster sein

Im Wartezimmer der Corona-Pandemie

3 – Das Ziel im Umgang: Integration oder Exklusion
Zwei Pole werden in der Wartezone der Corona-Krise im Blick auf ihre Bearbeitung immer wieder diskutiert: Herdenimmunität oder Eindämmen und Stoppen der Virusverbreitung. Es sind die zwei klassischen Pole im Umgang mit Krisen: Integration oder Exklusion. Beide Strategien bergen ihre Gefahren. Bei der Integration droht das unkontrollierte Beherrschtwerden durch das Virus. Bei der Exklusion bleibt – neben dem dauernden Zweifel an der erfolgreichen Umsetzung – die stete Bedrohung: Das Virus kann ständig zurückkehren. Die Integration basiert letztlich auf dem Prinzip des Annehmens der Krankheit. Sie ist in der Welt, sie muss mit bestmöglicher Hilfe durchgestanden werden. Die Exklusion basiert auf dem Prinzip des Ablehnens, des Kampfes gegen die Krankheit. Sie ist zwar in der Welt, aber sie soll wieder aus der Welt.

 

Beide Strategien gehören zum Menschsein – und beide Strategien haben auf dem Weg der menschlichen Entwicklung viele Erfolge vorzuweisen. Die Integration als Prinzip macht den Menschen grundsätzlich entwicklungsfähig. Zugleich bleibt er auf diesem Weg endlichkeitsbewusst. Erst der Mensch, der sein Sterben annehmen kann, kann leben. Die Exklusion von Krankheiten als Prinzip – Stichwort: Impfung – hat Dauer, Zahl und Qualität menschlichen Lebens deutlich erhöht. Allerdings hat es nicht den Sinn für die eigene Endlichkeit gestärkt. Dieser drängt sich durch die Wahrnehmung der Krise mit Macht wieder nach vorne.

 

Es macht wenig Sinn, die Strategien Integration und Exklusion im Umgang mit Krankheit gegeneinander auszuspielen. Hilfreich ist aber das Gespräch, das vor Augen führt, dass beide Strategien ihren guten Grund haben. Und: Ob Integration oder Überwindung, wenig ist so schön, wie im Wartezimmer von der Krise zu erzählen, die ich hinter mir habe. Gehabte Schmerzen, die hab ich gern, das wusste schon Wilhelm Busch.

 

2 – Der Sinn der Krise: Protest oder Veränderung
Womit wir bei einem Hauptfokus der gegenwärtigen Krisenbewältigung sind. Wie geht es danach weiter? Schon seit den ersten Pandemiewochen begleiten uns spannende Szenarien, welche guten, stärkenden Impulse für eine bessere Gesellschaft in der Krise verborgen lägen. Der Verzicht werde einen neuen Sinn für Entschleunigung, einen klareren Blick auf das Wesentliche, eine größere Achtsamkeit für den Nächsten, ein Mehr an Aufmerksamkeit und Kommunikation und nicht zuletzt einen Schub in der Digitalisierung mit sich bringen. Die Krise bekomme so ihren Sinn. In der Tat: Nach der Krankheit, das nehme ich mir bei jedem Arztbesuch neu vor, werde ich weniger Süßes essen, mehr Sport treiben, öfter Pausen machen und mehr zuhören. Umgekehrt – auch das ist aus der Verzichtssituation individuell so vertraut wie kollektiv – ist die Vorfreude während des Ausnahmezustands groß, hinterher zumindest manches nachholen zu können, was nun versäumt wurde. Der ausgefallene Theaterbesuch, die abgesagte Geburtstagsfeier – all das werde ich mir doch von einer Krankheit nicht vorschreiben lassen. „Gebt uns unser Leben zurück“, diese Formulierung war für mich bisher der stärkste Protest gegen die Krise und dabei bis in die Wortwahl hinein vom „Zurück“ geprägt. Der Protest gegen die Krise findet die Stärkung des Lebenssinns im Gewohnten, die Krankheit, die mir vorführt, was mein Leben ausmacht, und es wieder schätzen lehrt. Das Prinzip Veränderung findet den Sinn der Krise hingegen im Entdecken, was im bisherigen Leben offenkundig falsch war. Nun ist die Chance da, das zu ändern. „Wer sie jetzt nicht ergreift, hat nichts begriffen“ – auch diesen Satz hört man öfter im Wartezimmer.

 

Ähnlich wie bei der Frage nach Integration oder Exklusion sind die Pole dieser Bewältigungsstrategien nur die Leitplanken. Wir bewegen uns in der Regel dazwischen. Dabei sind die Kommunikationsräume Kunst und Religion von besonderer Bedeutung. In der Kunst lässt sich die ambivalente Konvulsion von Protest und Veränderung besonders gut zum Ausdruck bringen. Harmonie und Dissonanz bedingen einander, Katharsis und Unterhaltung bilden oft ein Zwillingspaar, das da zur Darstellung kommt, wo Freiheit eröffnet und Verstörung zugelassen wird. Und: Kein Psalm, der nicht die Ambivalenz der Welterfahrung in sich trägt: Die Anfechtung der Situation und die Zuwendung Gottes.

 

1 – Nächster sein: Gott und die Krise
In angemessener Kürze soll die Gottesfrage in der Krise angesprochen werden. Sie verbirgt sich, ja, sie grundiert die Frage nach dem Sinn. Will Gott uns, mir mit einer Krise etwas zeigen? Das pädagogisierende Gottesbild hinter dieser Frage lässt mich zurückschrecken. Andererseits: Der Gott, der ausschließlich als durch die Krise Mitgehender gedacht wird, wirkt erschreckend ohnmächtig. Auch das Gottesbild selbst verdient Beachtung in der Krise, weil es als Bild zerbrechen muss. Eine existenzielle Krisenerfahrung: Der lebendige Gott trägt und befreit, fordert und erlöst –als der ganz und gar Liebende. Wenn Krisen etwas mit Gottesbildern machen, dann das: Sie verlebendigen. Aus der Vorstellung eines Gottes wird das lebendige Gegenüber, das anspricht und – Gott sei Dank – ständig angesprochen werden kann.

 

Mit Jandl haben wir nun im Wartezimmer gesessen. So ist unsere gesellschaftliche Situation natürlich nicht. Wir sind eine liberale Gesellschaft im vorübergehenden Ausnahmezustand, dabei, wie wir jetzt erleben, sehr stabil und wenig bis gar nicht darauf gepolt, bloß untätig zu warten. Es gibt genug zu tun: als Erstes in der Begleitung der Kranken und Sterbenden. Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit, unsere Liebe. In ihnen begegnet uns Gott. Sie sind dran und dann wir. Weil wir ihre Nächsten sind. Und ja: Hinter dem Sinn wartet Segen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.

Christian Stäblein
Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
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