Nächster sein

Im Wartezimmer der Corona-Pandemie

Nächster sein. In Ernst Jandls aus dem Jahr 1968 stammenden Gedicht „fünfter sein“ wird die prototypische Situation im Wartezimmer beim Arzt ebenso knapp wie elementar aufgegriffen. Fünfter, vierter, dritter, zweiter, „nächster sein“ – gemeint ist die schlichte Reihenfolge der Wartenden, die nacheinander aufgerufen werden und ins Behandlungszimmer gehen. Auf einer zweiten Ebene thematisieren die Worte „nächster sein“ en passant, worum es in der Antwort auf Krankheit stets auch geht: zum Nächsten werden, und zwar in diesem übertragenen Sinn: solidarischer, fürsorgender, zuhörender Mitmensch werden, ja sein.

 

Das Wartezimmer ist ein mit ambivalenten Gefühlen und Gedanken gefüllter Zwischenort. Hier wird geschwiegen, manchmal aber auch lange geredet. Hier wird gebangt und erzählt. Hier wird gehustet und – wenn möglich – seit jeher auf Abstand gesessen. Das Wartezimmer ist der Ort, an dem sich die Fragen nach Integrität, nach Identität, vor allem auch die Frage nach einem Sinn der Krankheit und nicht selten die nach einem Sinn des Lebens aufdrängen. Zeit genug ist ja in der Regel. Und – mit Ausnahme vielleicht gerade jetzt, wo auch die Wartezimmer aus dem Gebot der Eindämmung des Virus heraus eher leer sind – sind genug andere da, Nächste, mit denen das alles besprochen sein mag. Sinnfragen bedürfen der Kommunikation, ja, möglicherweise stellt der Sinn sich überhaupt erst so ein. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht sind wir, so mein Eindruck, derzeit mit der Krise auch in einer Art kollektivem Wartezimmer, ein andauernder Ausnahmezustand, der uns vor zentrale Fragen stellt, die fast rund um die Uhr debattiert werden: in Talkshows, in Sonderausgaben, in Themensendungen, in Gottesdiensten. Fast könnte man frei nach Jandl über die ins Mark treffenden Identitäts- und Sinndiskurse dieser Wochen sagen: Tür auf, eine raus, eine rein. Ich nenne fünf Fragen, die unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten betrifft. Und dann, wenn Sie so wollen, sind wir dran – oder Nächste bzw. Nächster.

 

5 – Die Schmerzen der anderen
Zum Klassiker in der Wartezimmersituation gehört es, einander die Krankheiten und Gebrechen zu zeigen. Man will sich nicht anstecken, aber doch durchaus erfahren, was der andere hat. Die eigene Betroffenheit kann so artikuliert und zugleich für die Leiden des anderen Empathie entwickelt werden. Die Einsicht, meinen Nächsten geht es ähnlich, genauso oder gar noch schlechter, führt dazu, dass sich die eigene Betroffenheit relativiert.

 

In der Corona-Krise ist dieser Effekt im kollektiven gesellschaftlichen Wartezimmer gerade besonders wichtig. Allzu schnell werden die vielen anderen Betroffenen aus dem Blick verloren. Dazu gehören nicht nur die, die schlicht an anderen Krankheiten als Covid-19 erkrankt sind, von Krebs- über Herz- bis zu Influenza-Patienten. Dazu gehören erst recht die vielen mittelbaren Corona-Betroffenen: von der Schule – Stichwort: Bildungsnot – über die Familien – Stichwort: häusliche Gewalt – bis zum Sport – Stichwort: Insolvenzen im Profisport jenseits des Fußballs, von der Geschäftswelt – Stichwort: Rezession – bis zum für unsere Gesellschaft essenziellen Kulturbereich: Theater, Konzerte, Großevents, Museen, Galerien, Opern. Viele, ja, fast alle sind mittelbar von der Krise betroffen. Auf die Zukunft hin gerechnet verstärkt sich dieses Bild noch: Eine Rezession und eine mit ihr verbundene Zunahme von Armut verschlechtert konkret die Gesundheitssituation eines Teils der Gesellschaft. Armut ist das größte Gesundheitsrisiko. Insofern sind die Debatten um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus von elementarer Bedeutung. Sie müssen sein. Nur wenn im Zwischenraum Wartezimmer auch die Schwächeren zu Wort kommen, gibt es eine faire Chance auf einen solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft. Die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger erlebe ich in diesem Zusammenhang sehr verantwortungsbewusst, gerade weil keine politische Entscheidung zu irgendeinem Zeitpunkt „alternativlos“ ist. Die Stunde der Exekutive darf unter diesen Prämissen niemals ein autoritärer Alleingang sein. Schmerzen sind im Leben oft sehr ungleich verteilt. Eine Krise führt das vor Augen und macht uns, wenn es gut geht, sensibler für den Schmerz der anderen.

 

4 – Die Behandlung: Die Vielfalt der Hypothesen und ihr Rahmen

Im Wartezimmer unterliege ich meist einem doppelten Gedanken im Blick auf die medizinische Expertise. Ich wünsche mir eine Anweisung, die hilft und gesund macht. Und ich weiß, dass medizinische Kunst, von der Diagnostik bis zum Therapieansatz, eine hermeneutische Wissenschaft ist. Es gibt mehr als eine Meinung, ja, es gibt meist ziemlich viele. Neben der klaren Ansage lockt deshalb die zweite Meinung.

 

Zu den für die Mündigkeit unserer Gesellschaft aussagekräftigen Momenten in der Ausnahmesituation gehört die Auseinandersetzung zwischen den Expertinnen und Experten. Wenn der Bonner Virologe einen anderen Ansatz, eine andere Infektionshypothese und auch andere Maßnahmen vorschlägt als der Hamburger oder der Berliner Kollege, ist das eine wichtige Grundlage dafür, dass sich die Gesellschaft verantwortlich, weil innerhalb einer prinzipiellen Pluralität überaus bewusst, mit der Krisensituation auseinandersetzt. Gerade die Krise ist der Bewährungstest für die Akzeptanz von Vernunft und Argumentationsregeln innerhalb eines Gemeinwesens. Hierbei sind die Bereiche Kunst und Religion besonders gefragt. Denn sie bürgen für die Weite und den Freiheitsraum der Argumentation und ihrer zugrunde liegenden Wirklichkeitsmodelle. Kunst und Religion sind auch für den Austausch der hermeneutischen Modelle zum Verständnis und zur Bekämpfung einer Krankheit wesentliche Ressourcen. Im Bild gesprochen: Es gibt nur wenige Wartezimmer, in denen nicht Exponate bildender Kunst aufgehängt sind.

Christian Stäblein
Christian Stäblein ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
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