Christian Stäblein - 28. April 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur / Texte zur Kulturpolitik

Nächster sein


Im Wartezimmer der Corona-Pandemie

Nächster sein. In Ernst Jandls aus dem Jahr 1968 stammenden Gedicht „fünfter sein“ wird die prototypische Situation im Wartezimmer beim Arzt ebenso knapp wie elementar aufgegriffen. Fünfter, vierter, dritter, zweiter, „nächster sein“ – gemeint ist die schlichte Reihenfolge der Wartenden, die nacheinander aufgerufen werden und ins Behandlungszimmer gehen. Auf einer zweiten Ebene thematisieren die Worte „nächster sein“ en passant, worum es in der Antwort auf Krankheit stets auch geht: zum Nächsten werden, und zwar in diesem übertragenen Sinn: solidarischer, fürsorgender, zuhörender Mitmensch werden, ja sein.

 

Das Wartezimmer ist ein mit ambivalenten Gefühlen und Gedanken gefüllter Zwischenort. Hier wird geschwiegen, manchmal aber auch lange geredet. Hier wird gebangt und erzählt. Hier wird gehustet und – wenn möglich – seit jeher auf Abstand gesessen. Das Wartezimmer ist der Ort, an dem sich die Fragen nach Integrität, nach Identität, vor allem auch die Frage nach einem Sinn der Krankheit und nicht selten die nach einem Sinn des Lebens aufdrängen. Zeit genug ist ja in der Regel. Und – mit Ausnahme vielleicht gerade jetzt, wo auch die Wartezimmer aus dem Gebot der Eindämmung des Virus heraus eher leer sind – sind genug andere da, Nächste, mit denen das alles besprochen sein mag. Sinnfragen bedürfen der Kommunikation, ja, möglicherweise stellt der Sinn sich überhaupt erst so ein. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht sind wir, so mein Eindruck, derzeit mit der Krise auch in einer Art kollektivem Wartezimmer, ein andauernder Ausnahmezustand, der uns vor zentrale Fragen stellt, die fast rund um die Uhr debattiert werden: in Talkshows, in Sonderausgaben, in Themensendungen, in Gottesdiensten. Fast könnte man frei nach Jandl über die ins Mark treffenden Identitäts- und Sinndiskurse dieser Wochen sagen: Tür auf, eine raus, eine rein. Ich nenne fünf Fragen, die unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten betrifft. Und dann, wenn Sie so wollen, sind wir dran – oder Nächste bzw. Nächster.

 

5 – Die Schmerzen der anderen
Zum Klassiker in der Wartezimmersituation gehört es, einander die Krankheiten und Gebrechen zu zeigen. Man will sich nicht anstecken, aber doch durchaus erfahren, was der andere hat. Die eigene Betroffenheit kann so artikuliert und zugleich für die Leiden des anderen Empathie entwickelt werden. Die Einsicht, meinen Nächsten geht es ähnlich, genauso oder gar noch schlechter, führt dazu, dass sich die eigene Betroffenheit relativiert.

 

In der Corona-Krise ist dieser Effekt im kollektiven gesellschaftlichen Wartezimmer gerade besonders wichtig. Allzu schnell werden die vielen anderen Betroffenen aus dem Blick verloren. Dazu gehören nicht nur die, die schlicht an anderen Krankheiten als Covid-19 erkrankt sind, von Krebs- über Herz- bis zu Influenza-Patienten. Dazu gehören erst recht die vielen mittelbaren Corona-Betroffenen: von der Schule – Stichwort: Bildungsnot – über die Familien – Stichwort: häusliche Gewalt – bis zum Sport – Stichwort: Insolvenzen im Profisport jenseits des Fußballs, von der Geschäftswelt – Stichwort: Rezession – bis zum für unsere Gesellschaft essenziellen Kulturbereich: Theater, Konzerte, Großevents, Museen, Galerien, Opern. Viele, ja, fast alle sind mittelbar von der Krise betroffen. Auf die Zukunft hin gerechnet verstärkt sich dieses Bild noch: Eine Rezession und eine mit ihr verbundene Zunahme von Armut verschlechtert konkret die Gesundheitssituation eines Teils der Gesellschaft. Armut ist das größte Gesundheitsrisiko. Insofern sind die Debatten um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus von elementarer Bedeutung. Sie müssen sein. Nur wenn im Zwischenraum Wartezimmer auch die Schwächeren zu Wort kommen, gibt es eine faire Chance auf einen solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft. Die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger erlebe ich in diesem Zusammenhang sehr verantwortungsbewusst, gerade weil keine politische Entscheidung zu irgendeinem Zeitpunkt „alternativlos“ ist. Die Stunde der Exekutive darf unter diesen Prämissen niemals ein autoritärer Alleingang sein. Schmerzen sind im Leben oft sehr ungleich verteilt. Eine Krise führt das vor Augen und macht uns, wenn es gut geht, sensibler für den Schmerz der anderen.

 

4 – Die Behandlung: Die Vielfalt der Hypothesen und ihr Rahmen

Im Wartezimmer unterliege ich meist einem doppelten Gedanken im Blick auf die medizinische Expertise. Ich wünsche mir eine Anweisung, die hilft und gesund macht. Und ich weiß, dass medizinische Kunst, von der Diagnostik bis zum Therapieansatz, eine hermeneutische Wissenschaft ist. Es gibt mehr als eine Meinung, ja, es gibt meist ziemlich viele. Neben der klaren Ansage lockt deshalb die zweite Meinung.

 

Zu den für die Mündigkeit unserer Gesellschaft aussagekräftigen Momenten in der Ausnahmesituation gehört die Auseinandersetzung zwischen den Expertinnen und Experten. Wenn der Bonner Virologe einen anderen Ansatz, eine andere Infektionshypothese und auch andere Maßnahmen vorschlägt als der Hamburger oder der Berliner Kollege, ist das eine wichtige Grundlage dafür, dass sich die Gesellschaft verantwortlich, weil innerhalb einer prinzipiellen Pluralität überaus bewusst, mit der Krisensituation auseinandersetzt. Gerade die Krise ist der Bewährungstest für die Akzeptanz von Vernunft und Argumentationsregeln innerhalb eines Gemeinwesens. Hierbei sind die Bereiche Kunst und Religion besonders gefragt. Denn sie bürgen für die Weite und den Freiheitsraum der Argumentation und ihrer zugrunde liegenden Wirklichkeitsmodelle. Kunst und Religion sind auch für den Austausch der hermeneutischen Modelle zum Verständnis und zur Bekämpfung einer Krankheit wesentliche Ressourcen. Im Bild gesprochen: Es gibt nur wenige Wartezimmer, in denen nicht Exponate bildender Kunst aufgehängt sind.

3 – Das Ziel im Umgang: Integration oder Exklusion
Zwei Pole werden in der Wartezone der Corona-Krise im Blick auf ihre Bearbeitung immer wieder diskutiert: Herdenimmunität oder Eindämmen und Stoppen der Virusverbreitung. Es sind die zwei klassischen Pole im Umgang mit Krisen: Integration oder Exklusion. Beide Strategien bergen ihre Gefahren. Bei der Integration droht das unkontrollierte Beherrschtwerden durch das Virus. Bei der Exklusion bleibt – neben dem dauernden Zweifel an der erfolgreichen Umsetzung – die stete Bedrohung: Das Virus kann ständig zurückkehren. Die Integration basiert letztlich auf dem Prinzip des Annehmens der Krankheit. Sie ist in der Welt, sie muss mit bestmöglicher Hilfe durchgestanden werden. Die Exklusion basiert auf dem Prinzip des Ablehnens, des Kampfes gegen die Krankheit. Sie ist zwar in der Welt, aber sie soll wieder aus der Welt.

 

Beide Strategien gehören zum Menschsein – und beide Strategien haben auf dem Weg der menschlichen Entwicklung viele Erfolge vorzuweisen. Die Integration als Prinzip macht den Menschen grundsätzlich entwicklungsfähig. Zugleich bleibt er auf diesem Weg endlichkeitsbewusst. Erst der Mensch, der sein Sterben annehmen kann, kann leben. Die Exklusion von Krankheiten als Prinzip – Stichwort: Impfung – hat Dauer, Zahl und Qualität menschlichen Lebens deutlich erhöht. Allerdings hat es nicht den Sinn für die eigene Endlichkeit gestärkt. Dieser drängt sich durch die Wahrnehmung der Krise mit Macht wieder nach vorne.

 

Es macht wenig Sinn, die Strategien Integration und Exklusion im Umgang mit Krankheit gegeneinander auszuspielen. Hilfreich ist aber das Gespräch, das vor Augen führt, dass beide Strategien ihren guten Grund haben. Und: Ob Integration oder Überwindung, wenig ist so schön, wie im Wartezimmer von der Krise zu erzählen, die ich hinter mir habe. Gehabte Schmerzen, die hab ich gern, das wusste schon Wilhelm Busch.

 

2 – Der Sinn der Krise: Protest oder Veränderung
Womit wir bei einem Hauptfokus der gegenwärtigen Krisenbewältigung sind. Wie geht es danach weiter? Schon seit den ersten Pandemiewochen begleiten uns spannende Szenarien, welche guten, stärkenden Impulse für eine bessere Gesellschaft in der Krise verborgen lägen. Der Verzicht werde einen neuen Sinn für Entschleunigung, einen klareren Blick auf das Wesentliche, eine größere Achtsamkeit für den Nächsten, ein Mehr an Aufmerksamkeit und Kommunikation und nicht zuletzt einen Schub in der Digitalisierung mit sich bringen. Die Krise bekomme so ihren Sinn. In der Tat: Nach der Krankheit, das nehme ich mir bei jedem Arztbesuch neu vor, werde ich weniger Süßes essen, mehr Sport treiben, öfter Pausen machen und mehr zuhören. Umgekehrt – auch das ist aus der Verzichtssituation individuell so vertraut wie kollektiv – ist die Vorfreude während des Ausnahmezustands groß, hinterher zumindest manches nachholen zu können, was nun versäumt wurde. Der ausgefallene Theaterbesuch, die abgesagte Geburtstagsfeier – all das werde ich mir doch von einer Krankheit nicht vorschreiben lassen. „Gebt uns unser Leben zurück“, diese Formulierung war für mich bisher der stärkste Protest gegen die Krise und dabei bis in die Wortwahl hinein vom „Zurück“ geprägt. Der Protest gegen die Krise findet die Stärkung des Lebenssinns im Gewohnten, die Krankheit, die mir vorführt, was mein Leben ausmacht, und es wieder schätzen lehrt. Das Prinzip Veränderung findet den Sinn der Krise hingegen im Entdecken, was im bisherigen Leben offenkundig falsch war. Nun ist die Chance da, das zu ändern. „Wer sie jetzt nicht ergreift, hat nichts begriffen“ – auch diesen Satz hört man öfter im Wartezimmer.

 

Ähnlich wie bei der Frage nach Integration oder Exklusion sind die Pole dieser Bewältigungsstrategien nur die Leitplanken. Wir bewegen uns in der Regel dazwischen. Dabei sind die Kommunikationsräume Kunst und Religion von besonderer Bedeutung. In der Kunst lässt sich die ambivalente Konvulsion von Protest und Veränderung besonders gut zum Ausdruck bringen. Harmonie und Dissonanz bedingen einander, Katharsis und Unterhaltung bilden oft ein Zwillingspaar, das da zur Darstellung kommt, wo Freiheit eröffnet und Verstörung zugelassen wird. Und: Kein Psalm, der nicht die Ambivalenz der Welterfahrung in sich trägt: Die Anfechtung der Situation und die Zuwendung Gottes.

 

1 – Nächster sein: Gott und die Krise
In angemessener Kürze soll die Gottesfrage in der Krise angesprochen werden. Sie verbirgt sich, ja, sie grundiert die Frage nach dem Sinn. Will Gott uns, mir mit einer Krise etwas zeigen? Das pädagogisierende Gottesbild hinter dieser Frage lässt mich zurückschrecken. Andererseits: Der Gott, der ausschließlich als durch die Krise Mitgehender gedacht wird, wirkt erschreckend ohnmächtig. Auch das Gottesbild selbst verdient Beachtung in der Krise, weil es als Bild zerbrechen muss. Eine existenzielle Krisenerfahrung: Der lebendige Gott trägt und befreit, fordert und erlöst –als der ganz und gar Liebende. Wenn Krisen etwas mit Gottesbildern machen, dann das: Sie verlebendigen. Aus der Vorstellung eines Gottes wird das lebendige Gegenüber, das anspricht und – Gott sei Dank – ständig angesprochen werden kann.

 

Mit Jandl haben wir nun im Wartezimmer gesessen. So ist unsere gesellschaftliche Situation natürlich nicht. Wir sind eine liberale Gesellschaft im vorübergehenden Ausnahmezustand, dabei, wie wir jetzt erleben, sehr stabil und wenig bis gar nicht darauf gepolt, bloß untätig zu warten. Es gibt genug zu tun: als Erstes in der Begleitung der Kranken und Sterbenden. Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit, unsere Liebe. In ihnen begegnet uns Gott. Sie sind dran und dann wir. Weil wir ihre Nächsten sind. Und ja: Hinter dem Sinn wartet Segen.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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