Migrantentagebuch, zweiter Eintrag: „Klang des Stempelns“

Was bedeuten Einreisestempel?

 

Klang der Leere: Viele Jahre meines Lebens vergingen auf dem Westufer des Mittelmeeres, begleitet von Klängen des Stempelns. Die Stempel der Ausländerbehörde erlaubten mir, länger zu bleiben. Durch die Stempel in meinem Ausweis erkennen sie mich an und akzeptieren meinen schweren Namen. Gleichzeitig klangen die Stempel heftig auf meinem Herz und stärkten es, um die Last meiner Identität ertragen zu können. Die Stempel wurden allmählich blasser, aber es blieb die Leere, die sie in mir erzeugt haben. Ich suchte nach den Überresten meiner Gefühle, die aus Angst vor diesen Klängen verschwanden. Dann begann meine Reise, andere Grenzen zu überschreiten, die nicht auf den Karten gezeichnet waren.
In mir flüsterte eine Stimme: „Warum kommt all dieser Schmerz zu dir, wenn die Klänge des Stempelns zu hören sind? Warum graben die Stempel all diese tiefen Wunden in dir? Schließe bitte deine Augen und lass sie dein leeres Herz versiegeln, damit du auf dieser Seite des Meeres bleiben kannst. Schließe bitte deine Augen, damit du die Gesichter der Wächter nicht siehst, wenn sie in deine menschlichen Grenzen eindringen oder deine Menschlichkeit stehlen wollen. Du musst die Strafe akzeptieren, weil du die größte Sünde begangen hast, als du auf der anderen Seite des Meeres geboren wurdest!“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

Marwa Abidou
Marwa Abidou ist Theaterwissenschaftlerin mit zwei Doktorgraden im Fachbereich der Theaterwissenschaften und Performing Arts.
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