Mehrfach totgesagt, aber immer noch frisch und munter

Das Massenmedium Radio überlebt

Im Totgesagtwerden nimmt das Radio einen Spitzenplatz unter den klassischen Mediengattungen ein. Das begann schon im Amerika der 1950er Jahre als sich zwei Radiomanager angesichts der drohenden Konkurrenz des Fernsehens den Kopf über die Zukunft ihrer Radiostationen zerbrachen und bei einem Kneipenbesuch – so will es die Legende – das Formatradio erfanden, was den Siegeszug dieses Mediums so richtig begründete. Heute ist es nicht mehr das Fernsehen, sondern das Internet und die neuen sozialen Medien, die das Sterbeglöckchen des Radios heftig zum Läuten bringen. Das fällt nur nicht mehr auf, weil plötzlich alle klassischen Medien von solchen Untergangsängsten befallen sind. „Zeitungssterben“ heißt das Wort, das sich längst zwischen „Vogelgrippe“ und „Schweinepest“ eingenistet hat. Und selbst das stolze Fernsehen muss plötzlich in der heißen Asche herumstochern, die von seinem gesellschaftlichen Lagerfeuer übriggeblieben ist.

 

Dabei gibt es gravierende Unterschiede in dieser Todeszone, in die sich die analoge Medienlandschaft zu verwandeln scheint. Ausgerechnet das Radio dudelt so munter vor sich hin, dass man sich mittlerweile fragen muss, warum man den Heerscharen von Beratern je Glauben geschenkt hat, die ihre Untergangsszenarien wie Sauerbier anpriesen. Dass sich das Nutzerverhalten fundamental ändern würde, galt quasi als Naturgesetz; dass die Jungen den alten Medien endgültig den Rücken kehren, schien unausweichlich. Generationenabriss hieß das. Und der klassische Werbemarkt? Der schien ohnehin verloren. Nichts Rettendes, nirgends.

 

Dem Radio hat das alles wenig anhaben können. Im Gegenteil. Zu den kleinen Wundern des Medienwandels gehört die sagenhafte Robustheit, mit der sich das Radio zu behaupten weiß. Reichweiten, Verweildauern, also die Kernwährungen des Radiogeschäfts bleiben irritierend stabil. Das hat Gründe. Sicher auch, weil das Radio für den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit im Netzzeitalter besser gerüstet war als andere Mediengattungen. Radio war mobil, war in Grenzen immer schon interaktiv; es blieb ein Massenmedium, das Gesellschaften synchronisierte und wohl entscheidend: Es saßen lebendige Menschen am Mikrofon. Von Einsamkeitsbespaßung hat einer meiner Kollegen einmal gesprochen; aber eigentlich geht es um eine andere Form der sozialen Teilhabe als jener, die sich heute in den Netzblasen artikuliert.

 

Das Internet war nie der Feind des Radios. Im Gegenteil. Die sozialen Medien haben ihm endlich den Rückkanal verschafft, den es immer herbeigesehnt hatte; jenes große gesellschaftliche Zwiegespräch, von dem Bertolt Brecht schon in seiner frühen Radiotheorie träumte. Den eigenen Hörern endlich zuhören zu können, das war der große Gewinn.

 

Die Totengräber des Radios muss man deshalb woanders suchen, bei denen, die das Radio benutzen wollen und häufig auch missbrauchen. Das Radio ist aber weder ein kruder Werbeträger noch ein „volkspolitisches“ Erziehungsinstrument, zu dem man es in Deutschland immer wieder zu machen versucht hat. Es hat seine eigene subversive Kraft und die Angst davor war der deutschen Rundfunkpolitik in ihre DNA eingeschrieben seit die preußischen Behörden versuchten, dem sogenannten »Funkspuk« der Novemberrevolutionäre ein Ende zu setzen. In seiner bald 100-jährigen Geschichte wollte man das Radio immer an die Kandare nehmen, es einhegen, regulieren und nicht zuletzt für die andere Zwecke gebrauchen.

 

Wie anders war das dagegen bei den Amerikanern gelaufen, wo zumindest der Legende nach, die Geburtsstunde des Radios mit Unterhaltung begann, mit der Übertragung eines Weihnachtslieds durch eine Küstenstation, die einem einsamen Fischerboot draußen auf dem Meer eine Freude am Heiligen Abend machen wollten. Es wird wohl vor allem Knacken und Rauschen gewesen sein, was die Besatzung da zu hören bekam. Aber es entstand jene eigentümliche Nähe und Unmittelbarkeit, die zum Wesen von Radio gehört. So lange ist es auch bei uns noch nicht her, dass sich die Sehnsüchte und Hoffnung aus dem einst verschlossenen Teil Deutschlands über Radiowellen hinaustasteten in die freie westliche Welt. Wenigstens über den Äther konnte man diese wohl hören.

 

Sicher. Das alles ist längst Geschichte und hat nur bedingt etwas mit dem Gebot der Grundversorgung zu tun oder dem öffentlichen Programmauftrag; dem Werbeaufkommen bei den Privaten und deren Gewinnausschüttungen und Anteilsrenditen. Das sind die nüchternen Parameter, nach denen das Geschäft funktioniert. Viel prekärer sind die Bestrebungen – oder soll man es Missverständnisse nennen – dem Radio seine Eigenwilligkeit zu nehmen. Multimedial nennt man das heute; aber es erzeugt in Wahrheit nur Monokultur. Das ist schon komisch. Während überall das Umdenken beginnt, die Wälder der Zukunft nicht mehr aussehen sollen wie die heutigen Fichten- und Kiefernschonungen und Diversität zum Schlüsselbegriff des neuen Denkens wird, wird in der Medienlandschaft planiert, was sich planieren lässt. Mit der »Durchhörbarkeit« der Unterhaltungsprogramme hat das begonnen, aber das blieb immer noch Radio. Mittlerweile lässt das Netz die Grenzen verschwimmen und die Strukturen lösen sich auf. Radio nutzt Video, Print produziert Audio, Fernsehen publiziert zeitungsähnliche Angebote. Im großen Flow beginnen sich die Inhalte von den Ausspielwegen zu lösen. Doch im Kampf um Aufmerksamkeit kämpft jeder allein. Das Radio wird für diesen Kampf nicht sonderlich gut ausgestattet; denn es steht nicht im Scheinwerferlicht; es macht nichts von sich her. Radio finde im Halbdunkeln statt, hat der weise Ernst Elitz mir einmal gesagt, der selbst vom Fernsehen zum Deutschlandfunk kam. Tatsächlich ist Radio ein gedämpftes Medium, auch wenn es zuweilen sehr lautstark klingt. Radio hat etwas mit Hören zu tun und in seinen stärksten Momenten ist es fast hermeneutisch. Wann immer über die Zukunft von Radio nachgedacht wird, geht es um andere Dinge. Dann kommt der gesellschaftliche Auftrag ins Spiel; dann wird auf Kulturpartner und Sendezeiten verwiesen und im Zweifelsfall auf die zeitgenössische Musik. Aber die Stärke des Radios liegt eben nicht darin, nur Übermittler zu sein, um sich die Energien aus anderen Häusern zu holen. Eigene Kraft muss schon sein.

 

Das Radio lebt, wo es seine eigenen Gesetze beachtet und es überlebt, weil es offenbar Dinge kann, die unsere Zeit wieder braucht. Wir lernen wieder zu hören; die Erfolgskurve der Podcasts zeigt es uns an. Aber Radio ist nicht Audio. Es ist Wundertüte und verlässlicher Begleiter zugleich; es nimmt einen mit in die Ferne und lässt einen doch zu Hause sein; es ist das Medium einer alten Geografie. Bier braucht Heimat, sagen die Brauer. Fürs Radio gilt das wohl auch.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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