Tierischer Ernst

Der Nahe Osten steht in Flammen, aber Deutsche erregen sich über ein saumäßiges Oma-Liedchen

Ernst und Irrsinn liegen oft nah beieinander. Über die Jahreswende war die Aufregung bei uns wieder einmal groß – um ein harmloses Video. Diesmal nicht von Rezo, sondern vom Dortmunder Kinderchor des WDR. Den hatten Redakteure ein Quatschlied noch Oma-Umwelt-quatschiger singen lassen, klima-mäßig. Früher hätte man gesagt: „Das versendet sich.“ In Zeiten virtueller Dauerempörung nicht mehr. Senioren nebst selbsterklärter Altenversteher gingen auf die Barrikaden. Rechte nutzten die Vorlage, um wie üblich gegen die Öffentlich-Rechtlichen zu hetzen. Linke und Liberale konterten, Politiker mischten sich ein. Der Intendant kroch zu Kreuze, was ihm und dem WDR nicht half. Im Gegenteil. Nun protestierte auch noch der Redakteursrat gegen Selbstzensur. Verhandelt wurde zum x-ten Mal die Großfrage: Was darf Satire? In Deutschernstland im Zweifel: nichts.

 

Natürlich sind der Schutz der Atmosphäre wie der Gesellschaft vor Überhitzung ernste Sachen. Respekt vor Alten ebenso. Aber der Eifer, mit dem hierzulande über die CO2-Lebensleistung von Omas oder die Klimabelastung durch Steaks und Musikstreamen disputiert wird, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Habt ihr keine anderen Sorgen?, möchten man da fragen. Doch: Feinstaubbelastung und tierverschreckender Krach von Silvesterböllern. Dann ist ja gut.

 

Anderntags wurde die nervöse Nation mit dem Ernst des internationalen Lebens konfrontiert und so abrupt auf den Boden der Realität zurückgeholt: Weil der superignorante, ebenfalls dauererregte und -twitternde US-Präsident einen iranischen Terror-General in völliger Verkennung der Konsequenzen per Drohnenangriff töten ließ, steht das Pulverfass Naher und Mittlerer Osten seitdem in lodernden Flammen. Manche fürchteten bereits den Dritten Weltkrieg.

 

Auch das war sicherlich übertrieben. Doch die Lage bleibt äußerst angespannt, auch wenn eine völlige Eskalation bei Redaktionsschluss abgewendet zu sein schien. Aber die wechselseitigen Drohungen und die Rachegelüste in Teheran bleiben. Donald Trump setzt seinen Wirtschaftskrieg gegen Iran mit neuen Sanktionen fort, worunter vor allem die Menschen in dem Land leiden, von denen viele vor Kurzem noch gegen ihre islamistische Führung demonstrierten, sich jetzt aber gezwungen sahen, sich hinter sie zu scharen. Die wiederum hat sich vom Atomabkommen, das Trump einseitig aufgekündigt hat, endgültig verabschiedet und wird weiter an der Bombe bauen lassen. Bei den Gegenschlägen gegen US-Stützpunkte im Irak hat das Land zudem gezeigt, dass es mit seinen Raketen sehr präzise treffen kann. Die Vorstellungen, dass diese bis nach Europa reichenden Geschosse in absehbarer Zeit atomar bestückt sein könnten, lässt schaudern.

 

Das alles wäre Grund genug, sich ernste Sorgen zu machen über die verschiedenen Brandherde in der europäischen Peripherie, zu denen neben der Ukraine und Syrien, wo Baschar al-Assad mit russischer Hilfe weiter auf dem Vormarsch ist und Recep Tayyip Erdoğan weiterhin gegen die Kurden kämpft, dem Irak und Jemen auch Libyen gehört, der Hotspot der Fluchtbewegung, in dessen Bürgerkrieg nun auch die Türkei eingreift. Aber viele Deutsche beschäftigten sich nach dem „Omagate“ lieber mit der Bonpflicht. Und die EU reagierte wie immer rat- und machtlos. Auch das lässt schaudern.

 

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Klimaschutz und die Meinungs- und Kunstfreiheit sind wichtige Themen. Aber ohne Frieden und Freiheit ist alles nichts. Deshalb wäre – auch angesichts des neuerlichen Wettrüstens zwischen den USA und Russland, über das ich schon voriges Jahr schrieb – neben der Klima- eine neue Friedensbewegung dringend vonnöten. Die Verhinderung von Krieg in einer extrem unsicheren Welt: Das bleibt eine zentrale Menschheitsfrage, für die sich auch Künstlerinnen und Künstler engagieren sollten.

 

Denn die Lage ist zu Beginn des neuen Jahrzehnts extrem bedrohlich: Die USA sind kein verlässlicher Partner mehr, mit und ohne Trump. Den Westen als Werte- und Sicherheitsgemeinschaft gibt es nicht mehr, die EU bröckelt, die Briten ziehen nun ihre eigenen isolationistischen Brexit-Bahnen, Nationalisten und Fremdenfeinde sind überall auf dem Vormarsch. Der Islamismus mit seinem Terror stellt eine manifeste Gefahr dar, auch bei uns. Der chinesische Neoimperialismus nicht minder. Dazu kommen Wladimir Putin und Erdoğan mit ihren eigenen Kriegszügen, und clowneske demokratische Führer wie Trump und Boris Johnson, die vor nichts zurückschrecken. Alles keine rosigen Aussichten für die kommenden Jahre.

 

Darum sollten sich die Deutschen sorgen. Nicht um Omalieder und ähnliche Nichtigkeiten. Ich würde mir eine sehr ernsthafte gesellschaftliche Debatte wünschen, wie wir unseren inneren und äußeren Frieden schützen vor den Gefahren durch Kriege, Klimawandel, Nationalismus und Hass. Daran dürfen und sollten sich Künstlerinnen und Künstler dringend beteiligen. Denn auch ihre Freiheit ist bedroht. Der fünfte Jahrestag des islamistischen Anschlags auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ erinnerte gerade daran. Der Vorsatz ihrer überlebenden Zeichnerinnen und Zeichner macht Mut: „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“ Manchmal sind Karikaturen und Witze, und seien es sauschlechte, tatsächlich der beste Weg, sich gegen den globalen Irrsinn zu wehren. Humor hilft. Meistens. In dem Sinne: ein gutes, friedliches Jahr 2020.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.

Ludwig Greven
Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor.
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