Mehr Zukunftsstrategien statt reaktivem Krisenmanagement!

Zum gestalterischen Umgang mit der Krise

Eine Gesellschaft kann nicht kontinuierlich im Krisenmodus leben. Was tun? Aktuell gehen die Fallzahlen wieder hoch, die Angst vor der Auslastung der Intensivstationen steigt. Aber ist es nicht genau diese Zahlenmagie, die lähmt bezüglich eines kreativen Umgangs mit der Krise?

 

Seit Monaten wird auf die Entwicklung von Zahlen geschaut: die Zahl der Infizierten, die Todesfälle, der Inzidenzwert der letzten 7 Tage, Reproduktionswert, und diese Werte bestimmen das politische Handeln. Bei sinkenden Fallzahlen wird gesellschaftliches Leben geöffnet, bei steigenden eingeschränkt. Diese Kausalität ist jedoch falsch: Nicht, weil Zahlen steigen, sondern weil Politiker entscheiden, geschieht etwas. Und diese Sichtweise eröffnet Raum für neue Handlungsstrategien.

 

Auch unser aktueller sprachlicher Umgang mit der Krise ist von Ängsten und Einschränkungen geprägt: Social Distancing, Kontaktverbot, Super-Spreader, Hotspot, Risikogebiet! Auch die Logik dieser Begriffe ist fragwürdig: Statt „Social Distancing“ müsste es physische Distanz heißen. Ein absolutes „Unwort“ ist „Kontaktverbot“. Der Mensch kann kaum ohne soziale Kontakte leben. Und auch hier gilt: Kontakte sind selbstverständlich bei körperlicher Distanz möglich. Warum nicht statt „Kontaktverbot“ „fürsorgliche Distanz“? Im ersten Fall wird reguliert, im zweiten Positives für einen Dritten getan. Kulturelle Perspektivwechsel auf bestehende Praxis können durchaus neue Impulse liefern.

 

Eine Bevölkerung über einen längeren unbestimmten Zeitraum mit Verboten und Ängsten zu konfrontieren, kann zu Widerständen führen. Schon jetzt geht eine Fülle an Klagen ein zu den bestehenden Regeln. Die AHA-Regeln innerhalb des öffentlichen und privaten Raums als gesetzliche Vorgaben festzuhalten, ist ein Fass ohne Boden und führt schnell zu einer gefühlten Überregulierung. Wie kann es daher gelingen, die Eigenverantwortung der Bürger stärker zu aktivieren, statt alle Eventualitäten des gesellschaftlichen Miteinanders zu reglementieren? Zudem sind Kontaktverbote im privaten Raum nur schwer zu kontrollieren. Auch würde ein solcher Eingriff in die Privatsphäre langfristig das Selbstverständnis der Demokratie erschüttern.

 

Eine Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger würde eine andere Politik voraussetzen: a) eine konsequente partizipative Einbeziehung der Bürger und Zivilgesellschaft bei Entscheidungen zur Entwicklung von Schutzmaßnahmen und b) Entwicklung von langfristigen Szenarien im Umgang mit der Krise. Eine Gesellschaft unbefristet ohne Zielvorgabe hinzuhalten – Zitat RKI-Chef Lothar Wieler: „Wir müssen noch ein paar Monate die Pobacken zusammenkneifen“ – provoziert und ist zugleich wenig strategisch gedacht. Warum nicht jetzt eine längerfristige Zukunftsstrategie entwickeln, die gesellschaftliches Leben und Pandemieschutz, soweit möglich, in Einklang bringt, unabhängig der Entwicklung von Fallzahlen, einer 3. Welle, der Fertigstellung eines Impfstoffes oder der Gefahr einer weiteren Virusmutation. Möglicherweise werden uns Pandemien auch, wie in Asien, künftig stärker herausfordern.

 

Es gilt also, gesellschaftliches Leben aufrechtzuerhalten und zugleich ein unkontrolliertes Ausbrechen von Pandemien zu verhindern. Warum z. B. nicht Schule in größeren Raumdimensionen denken, Stichwort Bildungslandschaften, so eine analoge und digitale Raumerweiterung der Klassenzimmer auf Bibliotheken, Museen, Jugendkunstschulen etc. für kleinere Lerngruppen, die digital miteinander vernetzt werden können? Auch staatliche Infrastruktur könnte stärker in die Pflicht genommen werden: Theater schaffen es, jeden x-ten Platz in Ausnahmesituationen freizuhalten, die Deutsche Bundesbahn schafft das nicht, obwohl es über Onlinebuchungen leicht organisiert werden könnte. Daher ein kulturelles Plädoyer: Weg vom Krisenmodus hin zu einem gestalterischen Umgang mit der Krise!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

Susanne Keuchel
Susanne Keuchel ist ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Kulturrates und Hauptamtlich Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW.
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