„Das Grund­ge­setz kann nicht ein gu­tes Mit­ein­an­der de­fi­nie­ren.“

Rede von Thomas de Maizière bei der Vorstellung der 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration am 16. Mai 2017 in Berlin

Lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen: Es wird oft gesagt, dass das Bücherregal einer Person ziemlich viel über sie aussagt. Ann Morgan aus Großbritannien fragte sich vor einigen Jahren: Was sagen die Bücher auf meinen Regalen eigentlich über mich aus?

 

Als sie dieser Frage nachging, machte sie eine erschreckende Entdeckung. Sie hatte sich immer für eine kultivierte und weltoffene Person gehalten. Ihre Bücherregale sprachen aber eine ganz andere Sprache: Beinahe alle ihre Bücher stammten von britischen oder US-Amerikanischen Autoren – fast keine einzige Übersetzung war dabei. Sie wusste natürlich, dass die Welt mehr gute Geschichten zu bieten hatte, als nur die aus ihrer Heimat. Trotzdem besaß sie nur Bücher aus ihrem Kulturkreis. Sie war – so nannte sie sich selbst – ein „literarischer Fremdenfeind“.

 

Ann Morgan fasste einen Entschluss: Sie wollte innerhalb eines Jahres aus jedem Land der Welt mindestens einen Roman oder eine Kurzgeschichte lesen – am besten noch mehr. Es folgten aber zunächst nur Probleme: Welche Länderlisten sind maßgeblich? Die der UNO mit 193 Staaten? Wie die Zeit einteilen – bei fünf Arbeitstagen pro Woche? Woher die Bücher in englischer Sprache bekommen – eine Novelle aus Namibia oder einen Roman aus Swasiland?

 

Sie startete einen Aufruf im Internet. Sie bat in ihrem Blog um Orientierung und Hinweise, welche Bücher empfehlenswert sind, um die verschiedenen Länder kennenzulernen. Nach kurzer Zeit nahmen Menschen aus allen Teilen der Welt zu ihr Kontakt auf. Zuerst Freunde und Kollegen, dann Freunde von Freunden, dann waren es Fremde. Einige übernahmen sogar Recherchen für sie. Andere machten Umwege auf Dienstreisen oder in Urlauben, um für sie in Buchhandlungen zu gehen.

 

Nach – doch etwas mehr – als einem Jahr hatte sie ihr Projekt abgeschlossen. Sie hatte aus jedem Land der Welt mindestens ein Buch gelesen. Und das sind ihre Erfahrungen. Ich zitiere: „Die Bücher, die ich in jenem Jahr las, öffneten mir für vieles die Augen. Ich habe mich in die Gedankenwelt von Menschen aus anderen Ländern hineinversetzt und ihre Welt für die Dauer des Lesens mit ihren Augen betrachtet.“

 

„Ich habe die kulturelle Vielfalt der Welt erfahren. Das kann eine schöne, aber auch eine unangenehme Erfahrung sein – besonders dann, wenn man ein Buch aus einer Kultur liest, die ganz andere Werte besitzt als die eigenen.“

 

„All das ist aber auch sehr erhellend. Mit fremden Vorstellungen zu ringen, klärt das eigene Denken. Es zeigt blinde Flecken in der Sicht auf sich selbst und auf die Welt. Nach und nach änderte sich meine lange Länderliste, die ich ein Jahr zuvor machte, von einem trockenen akademischen Verzeichnis in ein lebendiges Gebilde. Ein Gebilde unterschiedlicher Kulturen, Erlebnisse und Geschichten.“

 

Vielleicht fragen Sie sich, welche Bücher Ann Morgan aus Deutschland gelesen hat, um einen Eindruck von unserem Land zu bekommen?

 

Ich sage es Ihnen: Es war „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll. Und es war „Medea: Stimmen“ von Christa Wolf. Was ist daran typisch für unser Land? Sind diese Bücher genauso geeignet, etwas über das Leben und die Kultur in Frankreich zu erzählen?

 

Und: Warum ist keiner ihrer Hinweisgeber auf die Idee gekommen, Ann Morgan das Grundgesetz zu empfehlen? Natürlich, das ist kein Roman, könnte man jetzt formal antworten.

 

Jeder von uns, der in ein anderes Land und eine andere Kultur reist, kauft sich einen Reiseführer und keine Gesetzessammlung – und sei sie auch noch so gut. Oder wir lesen einen Roman aus dem Land, in das wir verreisen. Warum? Weil Gesetze natürlich zu wenig sind, um sich in einem fremden Land zurecht zu finden – sogar als Tourist. Wir wollen Kultur erleben und die finden wir nicht in Gesetzen.

 

Warum sollten wir also für Menschen, die lange Zeit hier bleiben, weniger bereithalten, als für uns selbst, wenn wir nur kurze Zeit in einem fremden Land sind? Und warum sollten wir nicht darüber diskutieren, was – im übertragenden Sinne – in unseren Bücherregalen steht?

 

Die Frage aber bleibt: Wollen wir Menschen aus anderen Kulturen etwas über unser Land sagen, was über das Grundgesetz hinausgeht?

 

Einige sagen: Im Grundgesetz steht alles drin, was unser Zusammenleben grundlegend regelt und was unseren Zusammenhalt ausmacht oder beschreibt. Viele der Menschen in unserem Land sagt aber – so glaube ich – „ja“ und zu ihnen gehöre ich auch. Das Grundgesetz kann nicht ein gutes Miteinander definieren.

 

Das Grundgesetz wurde formuliert vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Aber es beschreibt nicht die Verantwortung für unsere Zukunft vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Das Grundgesetz steht am Anfang der Thesen, die ich vor einigen Tagen veröffentlicht habe. Und es steht am Anfang der 15 Thesen über die wir heute sprechen und denen ich zustimme.

 

Die Summe der alltäglichen Rituale, Traditionen und Umgangsformen mag nicht für alle 80 Millionen Menschen unseres Landes die gleiche Bedeutung haben – aber für viele Menschen sind sie wichtig. Und zu denen gehöre auch ich. Höflichkeit, Respekt, Offenheit, Toleranz, Streitkultur, Kompromissbereitschaft – diesen Geist atmet das Grundgesetz aber das alles steht so nicht darin.

 

Und doch stehen diese Verhaltensweisen jedem Bürger unseres Lands und jedem, der in Deutschland lebt, gut zu Gesicht. Deswegen sind sie auch hilfreich und wichtig für Integration.

 

Die Initiative kulturelle Integration formuliert viel fordernder als ich: „Die freiheitliche Demokratie verlangt Toleranz und Respekt.“ Und weiter „Die Regeln des alltäglichen Zusammenlebens müssen in der Demokratie unter Beachtung der Rechtsordnung immer wieder neu ausgehandelt werden.“

 

Manche empfinden – oder wollen es empfinden – schon das Aufschreiben einiger Lebensgewohnheiten und Haltungen als eine Provokation – auch und sogar, wenn es als Debattenbeitrag gekennzeichnet ist. Vielleicht, weil sie fälschlicherweise dort einen verbindlichen Benimm-Katalog vermuten, wo eigentlich die für unser Land wichtige Debatte um eine gemeinsame Selbstvergewisserung stattfinden kann.

 

Wir können von niemandem verlangen, unsere Lebensgewohnheiten zu respektieren, wenn wir nicht bereit sind, diese zu formulieren. Gleichzeitig sollte niemand der Überzeugung sein, dass das, was er oder sie als Beitrag zu diesem Thema aufgeschrieben hat, abschließend oder verbindlich ist. Das ist es nämlich nicht.

 

Entscheidend ist aus meiner Sicht etwas ganz anderes: Die Debatte, wie wir in unserem Land zusammenleben wollen, darf niemals vom Ende – vom Ergebnis – her gedacht werden. Denn das „eine“ Ergebnis der Debatte kann und wird es in einer freiheitlichen und sich verändernden Gesellschaft niemals geben.

 

Die Debatte selbst ist das Ziel, weil und wenn sie zusammenführt und gerade nicht spaltet. Diese Debatte setzt einen eigenen Standpunkt voraus, denn erst der eigene Standpunkt lässt Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Und es sind doch ebenjene Gemeinsamkeiten, die wir suchen, wenn wir danach fragen, was unser Land im Innersten zusammenhält.

 

Vor einem eigenen Standpunkt bei diesen Fragen sollte sich niemand drücken – etwa mit einem Verweis auf vermeintliche Banalitäten oder vermeintlich unpassende Begriffe. Denn darum scheint es bei all dem auch zu gehen – um Begriffe, um reflexhafte Reaktionen auf bestimmte Begriffe. Zum Beispiel auf Begriffe wie Leitkultur.

 

Beim Wort Leitkultur habe ich mit dem Kulturrat offenbar eine Meinungsverschiedenheit: Ich finde das Wort gut. Sie finden das Wort nicht gut. Dabei ist mir bis heute nicht ganz klar, ob es der Wortteil des „Leitens“, der Wortteil der „Kultur“ oder eben die Kombination beider Wörter ist, die Sie stört. Oder etwas anderes, was in der Vergangenheit liegt.

 

Wir könnten dazu auch „Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland“ sagen. Oder „einigendes Band“. Oder man könnte statt Leitkultur auch „Leitbild“ sagen – etwas das jedes Krankenhaus, jede Schule, jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält inzwischen hat.

 

Reden wir bei diesen Debatte über die Inhalte – denn darauf kommt es an. Ich bestehe natürlich nicht auf den Begriff der Leitkultur, aber ich benutze ihn gerne für das, was ich zu dem Thema sagen möchte – und nutze ihn auch heute. Aber ich respektiere jeden, der mir zivilisiert und höflich sagt, dass er dazu eine andere Meinung hat. Entweder zum Begriff, besser noch zum Inhalt.

 

Das ist Streitkultur. Und wenn Streitkultur etwas Wichtiges ist, dann kann Leitkultur, zu der Streitkultur gehört, nicht gar so schlimm sein. So wie wir heute hier miteinander umgehen – und sicher in der anschließenden Diskussion auch mal streitig -, so sollten wir das auch vorleben, wenn es um Leitkultur, Leitbild oder eine Richtschnur für unser Zusammenleben geht.

 

Die Menschen, die sich in unserem Land integrieren wollen, bringen – im übertragenen Sinne – ihre Bücher und ihre Geschichten mit in unser Land. Und das kann eine große kulturelle Bereicherung sein – für unser Bücherregal, zu dem wir die mitgebrachten Bücher dazu stellen. Keiner darf und keiner sollte verlangen, dass die Menschen ihre Geschichten vergessen und beiseitelegen, weil ihnen die Geschichten ihrer bisherigen Heimat genauso wichtig sind, wie jedem anderen die seinen.

 

Neben den Büchern und Geschichten bringen die Menschen auch ein soziales Miteinander mit, das von ihren Heimatgesellschaften geprägt ist. Dieses Miteinander wird sich – verglichen mit dem Miteinander hier – in einigen Punkten gleichen, in anderen unterscheiden.

 

Vieles müssen wir aushalten – auch wenn es uns im Einzelfall nicht gefallen sollte. Eine freiheitliche Ordnung versagt wenig und erlaubt vieles. Manches aber wollen und werden wir nicht tolerieren können. Und wir müssen zusammen diskutieren, was das eine und was das andere ist.

 

Die Debatte darüber ist im Kern die Unterscheidung zwischen Liberalität und Gleichgültigkeit. Eine solche Debatte wollte ich anstoßen – ich glaube, das ist mir und das ist uns heute gelungen.

 

Vielen Dank.

Thomas de Maizière
Thomas de Maizière MdB ist Bundesminister des Innern
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