Erbarmen: Ist eine fast grenzenlose Aufrüstung der einzige Ausweg?

Es gibt einige Bücher, die begleiten Menschen durchs ganze Leben. Für mich ist eines dieser Bücher der Sammelband »Gedichte gegen den Krieg«, herausgegeben von Kurt Fassmann. Das Buch wurde in meinem Geburtsjahr 1961 bei Kindler verlegt, hat aber seine große Verbreitung in meiner Generation durch einen Nachdruck im Verlag Zweitausendeins Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erlebt. Viele meiner Freunde hatten, wie ich, dieses Buch.

 

Wenn ich das Buch heute zur Hand nehme, kann ich an der aufgeplatzten Bindung erkennen, welche Gedichte mich damals besonders gefesselt hatten. Marie-Luise Kaschnitz, Rafael Alberti, natürlich Walter Bauer, einer meiner Lieblings-Lyriker, aber auch Henri Krea, immer Erich Kästner, Wolfgang Borchert und der einmalige Bertolt Brecht. Sie waren Rüstzeug in meiner Jugend, Wegweiser.

 

Sie sind jetzt wieder mein Beistand, wenn ich die Beschwörungen der letzten Wochen und den Aufrüstungstaumel in unserem Land versuche einzuordnen.

In meiner Jugend war der Zweite Weltkrieg noch nah. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es Kriegsversehrte, am Körper und am Geist. Der Pfarrer, der mich konfirmierte, hatte eine Hand aus dunklem, abgegriffenem Leder. Wir schauderten immer.

 

1981/82 habe ich Zivildienst abgeleistet, wie eigentlich fast jeder, den ich kannte. Jetzt hat sich die Welt gedreht, immer neue »Schicksalstage« bestimmen die Politik. Aufrüstung für den Frieden ist die einhellige Devise, Hunderte Milliarden Euro zusätzlich werden wir in den nächsten Jahren in unsere Armee stecken.

 

Früher, als ich noch am Niederrhein wohnte, bin ich oft an der Waffenfabrik Rheinmetall in Düsseldorf vorbeigefahren. Wie kann hier jemand freiwillig arbeiten, Waffen bauen, entsetzlich, habe ich mich damals gefragt. Heute fragen mich Freunde, ob ich denn auch Rheinmetall-Aktien gekauft hätte. Die gehen im wahrsten Wortsinn durch die Decke.

 

Ja, die Bedrohung ist real, aber ist unsere Reaktion darauf auch immer vernünftig? Ist eine fast grenzenlose Aufrüstung der einzige Ausweg, der uns bleibt? Hat die Geschichte uns keine anderen Wege gelehrt? Ich habe keine Antworten, aber ich suche sie. In dem alten Gedichtband finde ich zurzeit mehr Hinweise als in allen Kommentaren in den aktuellen Medien zusammen.

Einer der besten Wegweiser für mich ist Bertolt Brecht: „Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen. Als ob die alten nicht gelanget hätten: Ich bitt euch, habt mit euch selbst Erbarmen!“

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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