Einsame Menschen verwandeln sich in Monster

Die Entwicklung des Games „Sea of Solitude“

Durch eine Welt aus inneren Ängsten bahnt sich Kay, eine durch Einsamkeit zum Monster gewordene junge Frau, ihren Weg; dabei trägt sie ihr größer werdendes emotionales „Päckchen“ in Rucksackform – das ist kurz und knapp die Story des preisgekrönten Games „Sea of Solitude“ vom deutschen Indie-Studio Jo-Mei, das 2019 vom Publisher-Giganten Electronic Arts (EA) veröffentlicht wurde. Theresa Brüheim spricht mit der Entwicklerin Cornelia Geppert über die Emotionen hinter dem Spiel und den Weg zur erfolgreichen Veröffentlichung.

 

Theresa Brüheim: „Sea of Solitude“ ist eine emotionale Reise in Form eines Games. Der Name deutet es an, das Spiel setzt sich mit Einsamkeit auseinander. Jeder Mensch war schon mal einsam. Online-Multiplayer-Games können z. B. ein gutes Mittel gegen diese Einsamkeit sein. Wieso haben Sie sich entschieden, Einsamkeit in einem Game zu thematisieren, anstatt z. B. ein Game als Mittel gegen Einsamkeit zu entwickeln?
Cornelia Geppert: Der Hintergrund ist ein privater: Ende 2013 war ich sowohl im Privat- als auch Arbeitsleben unglücklich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich seit vier, fünf Jahren meine Firma, die ich mit meinem Co-Founder gegründet habe. Wir entwickelten 3D-Free-to-Play-Spiele. Seit Beginn wollten wir lieber emotionale, tiefe Spiele machen. Aber damals war es viel schwieriger, als kleine Indie-Firma in Deutschland mit emotionalen storylastigen Spielen Geld zu verdienen. Stattdessen wurden wir von einem Free-to-Play-Publisher zum anderen gereicht, denn in den 2010er Jahren konnte man sich mit Free-to-Play-Games eine goldene Nase verdienen. Ich habe versucht, all meine Liebe in diese Spiele reinzustecken und eine spannende Story zu kreieren. Trotzdem wurde ich mit der Zeit immer unglücklicher, ich konnte mich künstlerisch nicht ausdrücken, fühlte mich selbst gefangen in einem goldenen Käfig: Wir konnten gut Geld verdienen, aber die Kunst blieb auf der Strecke.
Zum gleichen Zeitpunkt ging meine Langzeitbeziehung zu Ende. Ich habe mich sehr einsam gefühlt. Aus diesen Umständen heraus begann ich, ein erstes Konzept von „Sea of Solitude“ zu schreiben. Ich wollte etwas wagen: Mein Co-Founder hat die Abteilung für Free-to-Play-Spiele übernommen, ich habe allein mit nur einem Programmierer „Sea of Solitude“ weiterentwickelt. Und dann passierte das, was das Game dramatisch pushte: Ich habe mich Hals über Kopf verliebt und schwebte wochenlang über dem Bordstein. Nach einigen Monaten verschwand dieser Mann immer wieder – erst über Stunden, dann über Tage. Es war die Hölle. Dann öffnete er sich, er litt an chronischer Depression.
Diese einmalige dramatische Situation in meinem Leben hat mich so kreativ gemacht. Das hört man immer wieder von Künstlern: Die größten Dramen bringen die schönste Kunst.

 

Bei „Sea of Solitude“ werden Menschen zu Monstern, wenn sie einsam sind. Um zurück zum Menschsein zu finden, müssen sie ihre „Corruptions“ bekämpfen. Wie geht das im Spiel? Welche Aussage soll den Spielern mitgegeben werden?
Diese Korruptionen sind die negativen Gedanken, die ein Mensch mit sich rumträgt – sei es aus der Vergangenheit, dem Präsens oder der Zukunft. Man spielt Kay, eine junge Frau, die monstermäßig aussieht – sie ist über und über mit schwarzen Haaren bedeckt und hat rote Augen. Sie trägt nichts außer ihrem Rucksack, der eine metaphorische Bedeutung hat: Er steht für das Päckchen, das wir alle im Leben zu tragen haben, das wir im Laufe der Zeit auffüllen. Wenn wir uns gesund verhalten, können wir dieses Päckchen, diese Belastung wieder leeren. Das schafft der Hauptcharakter nicht. Um im Spiel voranzuschreiten, muss man negative Gedanken in sein Päckchen reinsaugen. So legt man Dinge frei, die das Spiel voranbringen. Der Rucksack wird also größer und größer.

 

Wer ist die Zielgruppe?
Ich habe ein großes Zielgruppenproblem. Wenn man Kunst entwickelt, überlegt man vorher nicht, wen man ansprechen will – man macht es einfach. Später haben wir Menschen zwischen 14 und Ende 30 angedacht. Wir vermuteten, dass das Spiel mehr Frauen ansprechen könnte; aber nach dem Release haben wir festgestellt, dass wir häufiger – auch emotionales – Feedback von Männern bekommen.

 

Wie war das Feedback?
Als wir das erste Mal an die Spielerinnen und Spieler herangetreten sind, wurde klar, dass sehr viele sehr dankbar waren, dass wir diese schweren Themen in einem Game verarbeiten. In Sinne von: „Oh mein Gott, endlich sagt mal jemand laut, was mit mir los ist und was ich mich immer nicht traue zu sagen.“ Wir haben vom Herzen entwickelt – und viele erreicht.

 

Die Protagonistin Kay ist eine junge Frau. Wie wichtig war diese Entscheidung?
Das war ganz simpel: Sie repräsentiert mich.

 

Jo-Mei Games, Ihr Independent-Development-Studio, beschäftigt aktuell sechs Mitarbeiter. Auch vor der Entwicklung von „Sea of Solitude“ war es ein kleines Studio. Auf einmal kommt der börsennotierte, weltweit operierende Publisher EA und will das Spiel publizieren. Was bedeutet das für ein Indie-Studio?
In der gesamten Spieleindustrie wurde in den letzten Jahren eine neue Phase eingeläutet: Große Publisher unterstützen kleine Indie-Spiele. Für uns war die Zusammenarbeit mit EA der absolute Wahnsinn – wir haben so viel gelernt. Wenn ein kleines Studio plötzlich einen uralten Giganten an die Seite kriegt, der sich massiv mit Spieleentwicklung auskennt und die Spielequalität umfassend mit einer Tausendschaft testet. EA hatte damals speziell ein Indie-Lab gegründet und wollte gezielt kleine Studios unterstützen – wir waren eines der ersten, die davon profitiert haben. Anfangs gab es natürlich Probleme: Wie handhabt man ein Zwölf-Mann-Studio, wenn man nur Pläne für ein Tausend-Mann-Studio hat? Aber wir haben so viel gelernt, Leute aus der weltweiten Games-Szene kennengelernt, zum ersten Mal auf einer Konsole entwickelt usw.

 

Wie ist EA aufmerksam geworden? Wie läuft ein „Entdeckungsprozess“ in der Games-Branche ab?
2015 hatte ich den ersten schrubbeligen Prototyp in Form kleiner Minivideos ins Internet gestellt. Ich habe mich extra auf Twitter angemeldet und den Schlagsatz getwittert: „Wenn Menschen zu einsam werden, verwandeln sie sich in Monster“. Das Feedback war enorm. Direkt kam die erste Welle Publisher auf uns zu. Dann kam eine Agentur, die uns vertreten wollte. Denn: Wir waren überfordert, wie wir diesen neuen Prozess angehen sollten. Wir wollten ein hochqualitatives Spiel machen, aber viele Publisher hatten dafür nicht genug Geld. Und, und, und. Einen Agenten zu haben, war Gold wert: Wir sind sehr künstlerisch und hatten diese Businessseite nicht so inne. Es wurden dann Pitches auf großen Messen wie Gamescon, GDC oder E3 für uns organisiert. Zu diesen Messen gehen nicht nur die Fans, sondern dort trifft sich auch die Industrie zum Business. Aber niemand konnte das Angebot von EA toppen. Im August 2016 ging es dann richtig los mit der offiziellen Entwicklung von „Sea of Solitude“. Heute sind wir endlich dort angekommen, wo wir künstlerisch hingehören.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

Cornelia Geppert & Theresa Brüheim
Cornelia Geppert ist Mitgründerin von Jo-Mei Games. Sie hat das Spiel „Sea of Solitude“ entwickelt. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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