Die Abschaltung von Telegram löst nicht das Problem

Der Einfluss sozialer Netzwerke und Messengerdienste auf die Meinungsbildung steigt weiter

Der Messengerdienst Telegram hat es in den vergangenen Wochen zu trauriger Bekanntheit geschafft: Das soziale Medium ist mit der Ausbreitung der „Querdenker“-Bewegung zum einflussreichen Sammelbecken von Verschwörungsapologeten und Impfgegnern geworden. Mit der Ausbreitung des Coronavirus, der Zuspitzung der Infektionslage und damit verbundener Eindämmungsmaßnahmen radikalisiert sich der Ton in den Gruppen, denen bis zu 200.000 Menschen beitreten können.

 

Drohungen und Beleidigungen gegen Politiker und Wissenschaftler, Lügen und Halbwahrheiten über das gefährliche Virus werden in diesen Gruppen tausendfach verbreitet. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte jüngst berichtet, dass Teilnehmer hier gezielt nach Menschen suchen, die an Corona erkrankt sind. Einige möchten beweisen, dass die Erkrankung ungefährlich ist, andere der 2G-Regel am Arbeitsplatz ohne Impfung entsprechen. Zudem teilen die User der Telegram-Gruppen „Tipps“, wie man sich am besten anstecke. Doch es bleibt nicht bei solchen „Tipps“. In einer Chatgruppe des Messengerdienstes mit dem Namen „Dresden Offlinevernetzung“ wurden Mordpläne gegen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erörtert. Der Administrator der Gruppe habe auch erklärt, über Waffen zu verfügen. Die Staatsanwaltschaft prüft den Fall. Der Internet-Messengerdienst Telegram ist nach Einschätzung des Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer ein zentrales Forum militanter Impfgegner geworden. Im Interview mit MDR Thüringen sagte er, dass sich derzeit über Telegram zwischen 8.000 und 10.000 Thüringer radikalisierten. Alles rechtlich Mögliche müsse getan werden, damit Hass-, Gewalt- und Mordfantasien nicht weiter geteilt werden. Das sei zwar extrem schwierig bei Betreibern von Plattformen mit Sitz im Ausland, aber nicht unmöglich. Gleichzeitig warnte Kramer, davon zu viel zu erwarten: „Ich warne davor zu glauben, dass, wenn man Telegram abschaltet, das Problem gelöst sei. Das wird mitnichten der Fall sein.“

 

Bei Messengerdiensten weist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz eine Lücke auf

 

Seinen Sitz hat der Messengerdienst in Dubai, somit ist es schwer an die Verantwortlichen heranzukommen. Eine zustellfähige Anschrift, bei der die deutschen Behörden oder Minister ihre Beschwerde vorbringen könnten, existiert nicht. Telegram ist ein Messengerdienst, auf dem Nutzer Nachrichten hin- und herschreiben können – ähnlich der zum Facebook-Konzern (inzwischen Meta) gehörenden WhatsApp. Telegram ist inzwischen zu einer Konkurrenz für WhatsApp geworden, laut Unternehmen knackte Telegram 2021 die Marke von 500 Millionen Nutzern weltweit. WhatsApp hat rund vier Mal so viele Nutzer.

 

Gegründet wurde Telegram 2013 von dem Russen Pawel Durow, der auch die Facebook-Konkurrenz VKontakte aufbaute. Neben der Chat-Funktion sind auch Videoanrufe und Sprachnachrichten möglich. Eine Klarnamenpflicht gibt es nicht. Der Politikwissenschaftler Christoph Meißelbach von der Hochschule der sächsischen Polizei sieht mehrere Gründe, warum Telegram bei Gruppen am extremen Rand so beliebt ist. Zum einen gebe es mit Chats, Gruppen und Kanälen einen besonderen Umfang an Funktionen, dazu kämen eine weite Verbreitung und eine Profilierung als vermeintlich sichere aber unregulierte Plattform. Bei Telegram könnten sich solche Gruppen leicht zusammenfinden und Inhalte verbreiten.

 

Ab Februar dieses Jahres müssen soziale Netzwerke rechtswidrige Inhalte melden, nicht aber Messengerdienste. Die Innenminister von Bund und Ländern sehen darin eine Lücke. Sie wollen die Anbieter dieser Onlinedienste verpflichten, gegen Hass und Hetze aktiv zu werden und sprachen sich jetzt dafür aus, das neue Netzwerkdurchsetzungsgesetz entsprechend nachzubessern.

 

Fast 80 Prozent der deutschen Bevölkerung nutzt soziale Medien

 

Messengerdienste zählen wie soziale Netzwerke zu den Intermediären, denen bei der Meinungsbildung eine immer größere Rolle zukommt. Als Intermediäre werden Dienste verstanden, die durch Aggregation, Selektion und Präsentation Aufmerksamkeit für Inhalte erzeugen – seien es eigene oder von anderen erstellte. Das betrifft auch Inhalte, die die Meinungsbildung der Gesellschaft und unsere öffentliche Kommunikation beeinflussen können. Die weltweite Nutzung der sozialen Medien nimmt stetig zu. Soziale Netzwerke und die Interaktion auf ihnen ist heutzutage ohne Zweifel eine der beliebtesten Onlineaktivitäten. Weltweit gibt es etwa 3,6 Milliarden Social-Media-Nutzer. Das entspricht etwa 45 Prozent der heutigen Bevölkerung gemäß Statista.

 

In Deutschland waren 2021 66 Millionen Menschen in den sozialen Medien aktiv. Dies sind 78,7 Prozent der Bevölkerung. Der durchschnittliche Nutzer in Deutschland verbringt knapp 1,5 Stunden täglich in den sozialen Netzwerken. Die ARD-ZDF-Online-Studie von 2021 dokumentiert damit netzwerkübergreifend, dass sich die Social-Media-Nutzung in Deutschland weiter intensiviert hat. Facebook, Instagram, Pinterest, Twitch und TikTok konnten sowohl bei der täglichen/wöchentlichen als auch bei der monatlichen Nutzung zulegen. Bei den 14 bis 29-Jährigen liegt Instagram bereits deutlich vor Facebook. 80 Prozent der Nutzer zwischen 14 und 29 Jahren nutzen Instagram. Bei Facebook sind es in der gleichen Altersgruppe „nur“ 52 Prozent.

 

Dennoch liegt WhatsApp bei der täglichen Nutzung klar vor allen sozialen Netzwerken in Deutschland. Die Messengernutzung in Deutschland dominiert WhatsApp und auch wenn andere Messenger wie Telegram, Signal oder Threema eine treue Nutzerschaft haben, spielt WhatsApp in einer anderen Liga. So wird dieser Kommunikationsdienst von 81 Prozent der Erwachsenen genutzt und auf dem zweiten Platz folgt mit Abstand Telegram, mit acht Prozent.

 

Viele Nutzer können den Wahrheitsgehalt von Quellen im Internet nicht bewerten

 

Seit Jahren belegen die Ergebnisse der Studie „Intermediäre und Meinungsbildung“ der Medienanstalten die zunehmende Relevanz von Angeboten wie Google, Facebook & Co. Der fünfte Vielfaltsbericht vom Oktober 2021 bekräftigt diese Entwicklung. Mehr als 46 Prozent der Personen ab 14 Jahren in Deutschland informieren sich an einem Durchschnittstag, indem sie die Medienintermediäre nicht nur als Kontakthersteller nutzen, sondern auch Informationen direkt auf den Diensten wahrnehmen. Mit einem Plus von 44 Prozent gegenüber 2019 zeigt die Informationsnutzung über Medienintermediäre sogar einen deutlich stärkeren Zuwachs als die Informationsnutzung über die crossmedialen Angebote klassischer Medien und das Internet gesamt (38% bzw. 36%). Am häufigsten kommen Suchmaschinen zu informierenden Zwecken zum Einsatz. Googles Suchmaschine liegt in allen Altersgruppen an erster Stelle mit 32,7 Prozent, gefolgt von YouTube, das sich mit einer informierenden Tagesreichweite von 12,1 Prozent erstmals knapp vor Facebook mit 11,9 Prozent platziert.

 

Neben Corona gibt es auch andere Themen, wie der Klimawandel, die in sozialen Netzwerken kontrovers diskutiert und zu denen Fake News geteilt werden. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erläutert Fiete Stegers von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, der dort eine Studie zum Thema Desinformation geleitet hat, dass viele User den Wahrheitsgehalt der Quellen im Netz nicht gut einschätzen können. Im Auftrag der Vodafone Stiftung wurden 63 Expertinnen und Experten befragt, die sich mindestens seit drei Jahren mit dem Thema beschäftigen. Viele von ihnen sehen den gesellschaftlichen Zusammenhalt so in Gefahr, dass es zur Radikalisierung einzelner Personen kommen kann.

 

Allerdings spielten auch die klassischen Medien eine wichtige Rolle bei der Verstärkung der Reichweite, sagt Stegers. Beispielsweise seien in den vergangenen Jahren noch keine ausreichenden Strategien entwickelt worden, um über Desinformation zu berichten, ohne das Risiko einzugehen, den Falschinformationen zusätzliche Aufmerksamkeit und damit Glaubwürdigkeit zu geben.

 

Als Treiber von Desinformation wirkt offenbar die Coronapandemie. „Bei Corona haben wir natürlich eine Krise, die alle Menschen betrifft, bei der persönliche Ängste eine Rolle spielen, bei der insgesamt eine unsichere Informationslage eine Rolle spielt, die sich weiterentwickelt. Wo auch das, was gestern noch als ausreichend oder gut empfohlen wurde, in den nächsten Tagen von Wissenschaftlern wieder ganz anders gesehen wird. Und so eine unsichere Krisensituation führt natürlich insgesamt dazu, dass Falschinformationen sich weiterverbreiten“, so Stegers.

 

Die Medienanstalten sind für die Regulierung der Medienintermediäre verantwortlich

 

Diese sogenannten Intermediäre sind heute also wesentliche Elemente des Kommunikations- und Informationsverhaltens. Damit rücken sie zunehmend in den Fokus der Vielfaltssicherung.

 

Medienintermediäre, wie beispielsweise Suchmaschinen und soziale Netzwerke, haben einen wachsenden Einfluss auf die Meinungsbildung. Deshalb haben die Länder mit dem Medienstaatsvertrag medienspezifische Vorgaben beschlossen, um die Meinungsvielfalt durch sie zu sichern. So ist sicherzustellen, dass die zentralen Kriterien, die Anbieter von Medienintermediären etwa für Inhalteempfehlungen einsetzen, transparent gemacht werden und diskriminierungsfrei zugänglich sind. Die Medienanstalten haben im Jahr 2021 bereits erste Entscheidungen von Amts wegen und aufgrund von Beschwerden bezüglich der Diskriminierungsfreiheit gefällt.

 

„Die Sicherung von Medienvielfalt im digitalen Raum ist unverzichtbar für unsere Demokratie. Dabei tragen Medienintermediäre als Torwächter für Informationen gegenüber der Gesellschaft Verantwortung für bestimmte Entscheidungen mit potenziellen Auswirkungen auf die Meinungsvielfalt. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, Medienintermediäre unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Meinungsvielfalt regulatorisch in den Fokus zu nehmen. Der Medienstaatsvertrag spielt hier mit den Regelungen zur Transparenz von Suchalgorithmen und zur Diskriminierungsfreiheit für journalistisch-redaktionelle Inhalte eine Vorreiterrolle. Aufgrund der klar medienrechtlich, und zwar die Meinungsvielfalt sichernden Ausrichtung der Regulierung, steht diese selbständig neben den aktuellen Gesetzesinitiativen auf europäischer Ebene“, betont Wolfgang Kreißig, Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) auch mit Blick auf die aktuellen Diskussionen in Brüssel zum Digital Services Act und Digital Media Act.

 

Seit dem 1. Januar 2022 ist die Satzung zur Regulierung von Medienintermediären in Kraft. Sie regelt die Einzelheiten zur inhaltlichen und verfahrensmäßigen Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften zur Regulierung von Medienintermediären nach §§ 91 bis 95 des Medienstaatsvertrags. Mit diesen Verpflichtungen hat der Ländergesetzgeber im November 2020 europaweit ein Zeichen für mehr Medienvielfalt im digitalen Raum gesetzt. Die Aufsicht über Medienintermediäre wurde den Medienanstalten übertragen, die jetzt mit dem Vollzug der Transparenzregulierung gemäß der konkretisierten Vorgaben starten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.

Helmut Hartung
Helmut Hartung ist Chefredakteur des Blogs www.medienpolitik.net.
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