Ach, Thüringen

Die jüngsten Ereignisse offenbaren die Verletzlichkeit der parlamentarischen Demokratie

 

Denn auch die Feinde der Republik saßen in Weimar, haben sich dort munitioniert und versucht, ihren Ungeist gegen Berlin und eine als dekadent verunglimpfte Moderne in Stellung zu bringen. Dass Thüringen zu jener Zeit ein Laboratorium dieser Moderne war und sie in all ihrer Janusköpfigkeit gerade aus der Provinz kam, ist einem Beobachter wie Harry Graf Kessler früh aufgefallen. In Weimar ließ sich das Gären der deutschen Gesellschaft in vivo betrachten. Aber gelebt hat auch er in dieser Stadt nie wirklich. Das Ende kennen wir alle. Zwei Diktaturen senkten sich über das Land und am Ende war Thüringen fast von der mentalen Landkarte verschwunden.

 

Ich kann mich noch gut an eine Begegnung wenige Monate nach dem Mauerfall in der Bezirksverwaltungsbehörde von Erfurt erinnern, als die dortige Protokollchefin vor einer Wandkarte stand und um die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl mit dem Bleistift eine Linie zog. Das, sagte sie mit feierlicher Stimme, könne einmal wieder zu Thüringen werden.

 

Es ist ein Musterland der deutschen Einheit daraus geworden, und wenn das Wort von den blühenden Landschaften eine Berechtigung hat, dann gilt das für weite Teile von Thüringen. Es ist eine deshalb nicht leicht zu beantwortende Frage, warum die Entfremdung vom Westen mitunter dort am stärksten empfunden wird, wo die Angleichung der Lebensverhältnisse am weitesten fortgeschritten ist. Thüringen ist kein abgehängtes Hinterland. Thüringen lag auch nie im Osten, obwohl viele so reden. In diesen Tagen sind mir Ricarda Huchs „Lebensbilder deutscher Städte“ wieder in die Hände gefallen. Da wird die geografische Wahrnehmung noch einmal deutlich, wie sie vor Krieg, Verbrechen und Teilung bestand. Nicht Ost und West bestimmte den Blick auf die Verhältnisse, der Unterschied hieß eher Nord oder Süd. Erfurt gehörte genauso zur Mitte wie Aachen, Köln oder Frankfurt am Main.

 

Der Osten, wie wir ihn heute kennen, ist ein Ergebnis der Teilung und des jahrzehntelangen Vergessens. Dass er in all den Jahren seit dem Mauerfall nicht wieder verschwunden ist, gehört zu den Rätseln der Einheit. Ja, man muss leider eingestehen, dass sich die Zuordnung zum Osten gerade wieder mit Leben erfüllt. Von der Erfindung der Ostdeutschen ist die Rede und diese westliche Etikettierung verwandelt sich in einen trotzigen Eigenbegriff. Es sind vor allem die Erfahrungen der Nachwendejahre, aus denen sich die heutige Misere erklärt. Der Rückgriff auf ein immer noch gefährlich vagabundierendes ideologisches Erbe reicht da nicht aus.

 

Schieben wir die historischen Vorhänge einmal beiseite, dann erscheint die Thüringer Regierungskrise eben nicht zuvörderst als ein Problem der Vergangenheit. Dann werden die aktuellen politischen Umstände sichtbar und die Fehler des handelnden Personals. Vielleicht ist das Preis dafür, dass die politischen Überväter von einst wie Kurt Biedenkopf in Sachsen, Bernhard Vogel in Thüringen, aber auch Manfred Stolpe in Brandenburg eine politische Normalität vorgaben, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit nie ganz entsprach. Aber wie sollte es auch anders sein, nach dem existenziellen Umbruch von 1989 und den Jahrzehnten der Prägung davor. Dass die neuen Ländern sich mit vielen anderen postkommunistischen Staaten des Ostens diese Erfahrung teilten und sich darin womöglich näher stehen als dem Westen, ist lange nicht aufgefallen, macht aber begreiflich, warum ein freiheitliches bürgerliches Selbstverständnis erst wieder wachsen musste.

 

Was die Ereignisse in Thüringen dagegen deutlich machen, ist die Verletzlichkeit der parlamentarischen Demokratie, wenn ihr keine wache Zivilgesellschaft zur Seite stünde. Der Konstanzer Verfassungsrechtler Christoph Schönberger sprach von der burlesken Weise, wie die Vorgänge in Erfurt die „verfassungsrechtlichen Stabilitätsmythen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte“ dementiert hätten, wobei das Wort burlesk in diesem Zusammenhang kaum angemessen erscheint. Tatsächlich zeigt die öffentliche Reaktion auf Thüringen aber, dass das gesellschaftliche Korrektiv funktioniert. Wenn überhaupt, dann war es der öffentliche Druck, der das schnelle Einlenken erzwang.

 

Das kann trotzdem nicht frohgemut stimmen. Denn wenn man einmal alle grundsätzlichen Fragen für einen kurzen Moment beiseitelegt, wird auch der Wahrnehmungs- und Ansehensverlust von Politikern sichtbar, die das taktische Kalkül inzwischen zur wichtigsten Richtschnur ihres Handels machen. Ein glückloser, mit allen Tricks um sein politisches Überleben kämpfender Oppositionsführer ist da nicht besser, als so mancher Regierungsvertreter, der partout nicht einsehen wollte, dass auch er die Wahl verloren hat.

 

Auch wenn man sich sträubt, es so dramatisch zu sagen: Aber unsere Demokratie befindet sich in einem riskanten Stresstest und ob die repräsentativen Formen der politischen Willensbildung das überleben können, ist keine akademische Frage mehr. Sie hängt, wie könnte es in einer freiheitlichen Gesellschaft anders sein, ganz entscheidend vom Verhalten derer ab, die ein öffentliches Amt bekleiden. Sie müssen sich bewusst sein, was ihr Amt erfordert und was der Unterschied ist zwischen diesem Amt und der eigenen Person.

 

In Thüringen ist mehr ins Rutschen geraten als nur die Mehrheitsbildung im Parlament. Dort geht es um demokratische Spielregeln. Dort geht es um politischen Anstand und um persönliche Integrität. Und dort geht es darum, eine gemeinsame Sprache wieder zu finden. Die linke und die bürgerliche Seite des demokratischen Spektrums, hat ein kluger Kommentator jetzt bemerkt, leiste sich einen Bruderzwist, „der von der Unversöhnlichkeit über die Sprachlosigkeit schließlich in die Zersplitterung“ führe. Ach, Thüringen! – möchte man rufen. Passt auf, was ihr dort tut.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.

Johann Michael Möller
Johann Michael Möller ist Ethnologe und Journalist. Er war langjähriger Hörfunkdirektor des MDR.
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