Wissenschaft inspiriert durch Science-Fiction

Wer verstehen will, wie sich unsere Welt entwickelt, sollte sich mit Science-Fiction beschäftigen

Ein gutes Beispiel für die Symbiose von Wissenschaft und Science-Fiction ist die Astrobiologie, die die Frage nach Leben im All stellt. „Im Grunde hat nur der Einfluss von Science-Fiction dazu geführt, dass im 20. Jahrhundert sehr viele Forschungsgelder in die Suche nach außerirdischem Leben gesteckt wurden“, schreibt Mark Brake in seinem Buch „The Science of Science- Fiction“, das den Einfluss von Science-Fiction auf die Wissenschaft und Kultur von heute untersucht. Und tatsächlich: Seit den 1960er Jahren laufen immer wieder SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence)-Forschungsprojekte, die das All nach Signalen technischer Zivilisationen absuchen. „Bis heute haben wir ja keinen wissenschaftlich haltbaren Hinweis darauf, dass Zivilisationen außerhalb der Erde existieren. Hier führt also pure Imagination zu wissenschaftlicher Forschung“, schreibt Brake, emeritierter Professor für Wissenschaftskommunikation an der britischen Universität von Glamorgan.

 

Das Genre Science-Fiction verändert sich außerdem: Es wird immer ernsthafter und wissenschaftlicher. „Der Anspruch Hollywoods ist es heute, ‚harte‘ Science-Fiction zu machen, die möglichst auf Fakten beruht, die also ernst genommen wird. Die Science-Fiction ist seriös geworden“, sagt Alexandra Ganser. Z. B. veröffentlichen mittlerweile sehr respektable wissenschaftliche Verlage Reiseführer für Weltalltouristen.

 

Doch genau darin liegt aus ihrer Sicht auch eine Gefahr: „Es vermischen sich Fiktionalität und Projektionen in die Zukunft mit der Realität. Es wird impliziert, dass es eine natürliche Entwicklung zum Leben auf dem Mars gibt, dass es im Wesen der Menschheit liegt zu expandieren.“ Darin sieht die Amerikanistin die Fortführung einer amerikanischen Eroberungsrhetorik. „Es wird mit diesen Filmen und Serien vermittelt, dass die Menschheit auf der Erde nicht überleben kann und eine Expansion ins Weltall unvermeidlich wäre, der logische nächste Schritt. Dabei ist das wiederum wirklich reine Fiktion.“ Viel sinnvoller sei es doch, den Pioniergeist dafür aufzubringen, die Erde nicht zu zerstören als die Vorstellung zu verbreiten, es sei leicht machbar, das Universum nachhaltig zu gestalten.

 

Es gibt sogar einen neuen, feststehenden Begriff für diese Vorstellungen der Kolonialisierung des Universums: „Astrofuturismus“ bezeichnet eine neue Utopie, die der Menschheit ein neues Leben auf anderen Planeten im All nicht nur voraussagt, sondern als unvermeidlich darstellt. Die Dystopie auf der Erde ist darin gesetzt. Ein Beispiel dafür ist das Buch „How we’ll live on Mars“ von Stephen Petranek, das voraussagt, wie Menschen im Jahr 2027 auf dem Mars leben werden. Das Buch ist in den USA sehr erfolgreich, Petranek tourte damit durch Talkshows, sprach darüber in einem TED-Talk, einer beliebten Innovationskonferenz in Kalifornien. „Aktuell sind Apokalypsen und Dystopien sehr en vogue. Dabei brauchen wir positive Erzählungen über die Zukunft, die mehrere Möglichkeiten offen lassen – damit wir uns nicht reale Handlungsmöglichkeiten verbauen“, findet Ganser.

 

Tatsächlich sind auch Wissenschaftler nur Menschen und ausnehmend viele von ihnen waren als Kinder begeisterte Science-Fiction-Fans. Der amerikanische Raketenforscher Robert Goddard interessierte sich für das Weltall, weil er als Kind „Krieg der Welten“ von H. G. Wells gelesen hatte. Wells gilt heute neben Größen wie George Orwell, Stanislaw Lem oder Aldous Huxley als der Shakespeare der Science-Fiction-Literatur. Goddard hatte später als erfolgreicher Raketenforscher, nach dem sogar ein Mondkrater benannt ist, Wells einen Brief geschrieben, in dem er ihm für die Inspiration dankte. Auch der deutsche Forscher Jürgen Schmidhuber, ein Pionier der sogenannten neuronalen Netze, die ein Teil von selbstlernender künstliche Intelligenz sind, war schon als Kind ein Science-Fiction-Liebhaber.

 

Schmidhuber ist heute wissenschaftlicher Direktor bei der IDSIA, einem Schweizer Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz. Er nennt als Lieblingsromane seiner Kindheit Daniel F. Galouyes „Simulacron 3“, der Roman beschrieb schon 1964 das Hochladen eines menschlichen Verstandes in eine Computersimulation. „Visionär war außerdem William Gibsons Neuromancer-Trilogie aus den 1980er Jahren, die von einer KI erzählt, die im Cyberspace Menschen manipuliert. Die Bücher gab es, bevor es das www gab“, sagt Schmidhuber. Er kennt unglaublich viel Science-Fiction, ist aber ein äußerst kritischer Konsument: „99 Prozent der Science-Fiction ist Schrott. Aber 0,1 Prozent sind Perlen.“ Als Schmidhuber ein Kind war, las er viel. „Was mir an den Büchern meistens sehr unrealistisch erschien, war die Menschenzentriertheit. Denn wahrhaft kluge KIs interessiert sich wohl kaum für Menschen. Damals schon schien mir: Ich muss radikaler denken als diese immer noch eher zögerliche Science-Fiction.“ Dieser Impuls mündete darin, dass der 15-jährige Schmidhuber die Idee verfolgte, eine sich selbst verbessernde künstliche Intelligenz zu bauen, die klüger ist als er selbst. Was daraus wurde, ist bekannt: Einige Jahrzehnte später wandte Google seine sogenannten „Deep Learning“-Netzwerke an, sie sind ein Teil der Mustererkennung von künstlicher Intelligenz. Die New York Times hat über ihn mal geschrieben: „Wenn künstliche Intelligenz einmal heranwächst, dann wird sie Jürgen Schmidhuber einmal Papa rufen.“

 

Selbstverständlich sind Informatiker nicht unbedingt überlegene Ratgeber in Sachen Lesestoff, Unterhaltung und Kunst. Aber es könnte möglicherweise doch eine Rolle spielen, welche Bücher und welche Filme diejenigen gut finden, die die Zukunft der Menschheit gerade gestalten.

 

Wenn unsere Gesellschaft darüber nachdenken soll, wohin all die technologischen Entwicklungen führen werden, dann ist es von Vorteil, einen hypothetischen Blick in die Zukunft zu wagen und Science-Fiction ernst zu nehmen – egal ob es um künstliche Intelligenz, Robotik, Gentechnik oder die Folgen des Klimawandels geht.

 

Denn im Grunde sind sich beide Disziplinen sehr viel ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Es ist die eine Frage, die Menschen bewegt: Was wäre, wenn?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Judith Blage
Judith Blage ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Frank-furter Allgemeine Zeitung und die Welt.
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