Wissenschaft inspiriert durch Science-Fiction

Wer verstehen will, wie sich unsere Welt entwickelt, sollte sich mit Science-Fiction beschäftigen

Schon der allererste Science-Fiction-Roman war hanebüchen: Es leben Aliens auf dem Mond, gegen die Atemnot im All hilft ein feuchter Schwamm vor der Nase. Typische Science-Fiction-Kritiker von heute hätten abgewunken und „alles unrealistisch“ geschrien. Wüssten sie aber den Namen des Urhebers, wer weiß, sie würden vielleicht verstummen. Denn es war der große Astronom und Naturphilosoph Johannes Kepler, der mit „Somnium“, lateinisch für „der Traum“, eine fiktionale Traumreise zum Mond beschrieb – im Jahr 1608, einige Zeit bevor Galileo Galilei sein Teleskop auf die Sterne richtete und mehr als 300 Jahre, bevor Neil Armstrong seinen Fuß auf den Mond setzte.

 

Die Mondlandung war also 1969 eigentlich schon ein alter Hut. Zumindest, wenn man von der Idee ausgeht. Kepler beschreibt in seinem Roman eine Space Odyssee, spart nicht mit physikalischen Details über die Schwerelosigkeit im All und spekuliert über die Verhältnisse, die auf dem Erdtrabanten wohl herrschen mögen. Auch wenn Kritiker recht hatten, dass einiges nicht besonders realistisch ist, so war Keplers entscheidende Idee prophetisch. Auch Kepler wiederum schrieb nur einen Gedanken auf, der schon Jahrhunderte vorher in den Köpfen anderer geschwelt hatte,
z. B. in denen der antiken Schriftsteller Plutarch und Lukian. Kurzum: Science-Fiction als Literaturgattung ist viel älter, als die meisten glauben.

Die Mondlandung ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr der Gang der Welt und auch die Entwicklung der Wissenschaft und Technologie sich in den Geschichten zeigen, die wir lesen oder in Filmen sehen – und wie sehr diese wieder zurückspiegeln in die Wissenschaft. Umso merkwürdiger ist die Arroganz, mit der Kulturschaffende und Literaturkritiker, aber auch Wissenschaftler auf Filme oder Bücher hinabsehen, die sich nicht mit der Vergangenheit oder der Gegenwart befassen, sondern mit der Zukunft. Science-Fiction sei etwas für Eskapisten, heißt es.

 

Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn natürlich ist es wichtig, sich mit den Gedankenentwürfen über die Zukunft zu befassen. Die Menschheit verändert ihre Lebenswelt in so rasendem Tempo, dass sich die Visionen von gestern sehr schnell zur Gegenwart von morgen wandeln können. Science-Fiction ist außerdem schon länger keine Domäne pickliger Nerds mehr: Längst im Mainstream angekommen, beeinflusst sie die Meinung der Menschen über die Wissenschaft – und damit auch ihre Richtung. Sie spiegelt unser Weltbild und weist auf gesellschaftliche Themen, die kommen werden.

 

Es gibt unzählige Anekdoten darüber, welche Technologien zuerst in fiktionalen Geschichten auftauchten und später Wirklichkeit wurden. Als Klassiker in dieser Richtung gilt Stanley Kubricks „2001: Space Odyssee“ aus dem Jahr 1968, in dem sprechende Computer, künstliche Intelligenz, iPad-ähnliche Computerflundern, ebenfalls eine Mondlandung und viele andere visionäre Gadgets auftauchen. Nicht umsonst hieß das erste Klapphandy von Motorola StarTac in Anlehnung an Star Trek, in dem bekanntermaßen schon lange mit „Kommunikatoren“ telefoniert wurde, die im Grunde wie heutige Handys aussehen. Auch der Film „Minority Report“ aus dem Jahr 2002 ist eine regelrechte Fundgrube: Hier tauchten Gesichtserkennung, personalisierte Werbung, Videotelefonie, Gestensteuerung und das Internet der Dinge auf, als sie noch nicht in der Realität existierten. Angeblich sind rund hundert Patente aus dem Film heraus entstanden. Und das ist auch kein Zufall, wenn man die Professionalität betrachtet, mit der Steven Spielberg und sein Szenenbildner Alex McDowell an die fiktive Zukunft im Film herangingen. McDowell setzte sich mit einigen der damals einflussreichsten Computerforscher, mit Stadtplanern und Wissenschaftlern, unter anderem vom Bostoner MIT, zusammen und ließ sich genau erklären, wie aus Sicht der Wissenschaftler Transportsysteme, die Waffen der Zukunft und das Bildungssystem im Jahr 2054 wohl aussehen mögen. Aus den Ergebnissen erstellte er einen Zukunftskatalog, die 2054-Bibel. Deshalb wirkt „Minority Report“ wie eine Zukunftsvorhersage, die immer noch nicht veraltet ist.

 

Aber noch viel interessanter ist der Aspekt, dass dieser Zukunftsentwurf, der aus der Wissenschaft in die Unterhaltung schwappte, wieder Ideen in die reale Welt zurückspült: McDowell leitet heute das World Building Institute an der University of Southern California in Los Angeles, das Nichtregierungsorganisationen, politische Institute, Architekten und Unternehmen berät – die wiederum mit McDowells Ideen Gebäude bauen und Städte planen. „Mich interessieren heute die Probleme der echten Welt mehr als die Probleme der Filmindustrie“, sagt McDowell. Wohlgemerkt, McDowell war mal „nur“ Szenenbildner in Hollywood.

 

Der Einfluss fiktionaler Geschichten ist viel fundamentaler, als ein paar visionäre technologische Gadgets in Filmszenerien glauben machen. Besonders wenn es um die Zukunft der Menschheit geht: „In den USA gibt es eine enge Verflechtung zwischen Hollywood und der Raumfahrtforschung“, sagt Alexandra Ganser, Professorin für Amerikanistik an der Universität Wien. Sie untersucht in einem Forschungsprojekt die Zukunftsvisionen Hollywoods und wie sich diese in der amerikanischen Politik und Wissenschaftslandschaft niederschlagen. Seit Beginn des sogenannten „Wettlaufs ins All“ mit der Zündung der sowjetischen Sputnik-Rakete 1957 haben sich der Hollywood-Weltraumfilm und die tatsächlichen Entwicklungen in der Astrotechnologie wechselseitig beeinflusst. Der Anfang seien die didaktischen Filme „Man and the Moon“ und „Man in Space“ von Walt Disney aus dem Jahr 1955 gewesen. Darin erklärt der deutsche Raketenkonstrukteur Wernher von Braun, der nach dem Zweiten Weltkrieg für die Nasa arbeitete, wie die Raumfahrt funktioniert, ergänzt durch Cartoonszenen. Diese Zusammenarbeit setzte sich im 21. Jahrhundert fort: „Der Film ›Der Marsianer‹ von Ridley Scott wäre nicht entstanden ohne das Expertenwissen der Nasa, sie war auch sehr an der Vermarktung des Films beteiligt.“ Die Nasa unterhalte ein eigenes Kulturbüro, das PR macht und Einfluss nimmt auf kulturelle Institutionen. „Im Gegenzug eröffnen solche Science-Fiction-Filme Spielräume für das Denken, wecken Interesse und regen zu Ideen an, die dann später wiederum in der Wissenschaft aufgegriffen werden“, sagt Ganser.

Ein gutes Beispiel für die Symbiose von Wissenschaft und Science-Fiction ist die Astrobiologie, die die Frage nach Leben im All stellt. „Im Grunde hat nur der Einfluss von Science-Fiction dazu geführt, dass im 20. Jahrhundert sehr viele Forschungsgelder in die Suche nach außerirdischem Leben gesteckt wurden“, schreibt Mark Brake in seinem Buch „The Science of Science- Fiction“, das den Einfluss von Science-Fiction auf die Wissenschaft und Kultur von heute untersucht. Und tatsächlich: Seit den 1960er Jahren laufen immer wieder SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence)-Forschungsprojekte, die das All nach Signalen technischer Zivilisationen absuchen. „Bis heute haben wir ja keinen wissenschaftlich haltbaren Hinweis darauf, dass Zivilisationen außerhalb der Erde existieren. Hier führt also pure Imagination zu wissenschaftlicher Forschung“, schreibt Brake, emeritierter Professor für Wissenschaftskommunikation an der britischen Universität von Glamorgan.

 

Das Genre Science-Fiction verändert sich außerdem: Es wird immer ernsthafter und wissenschaftlicher. „Der Anspruch Hollywoods ist es heute, ‚harte‘ Science-Fiction zu machen, die möglichst auf Fakten beruht, die also ernst genommen wird. Die Science-Fiction ist seriös geworden“, sagt Alexandra Ganser. Z. B. veröffentlichen mittlerweile sehr respektable wissenschaftliche Verlage Reiseführer für Weltalltouristen.

 

Doch genau darin liegt aus ihrer Sicht auch eine Gefahr: „Es vermischen sich Fiktionalität und Projektionen in die Zukunft mit der Realität. Es wird impliziert, dass es eine natürliche Entwicklung zum Leben auf dem Mars gibt, dass es im Wesen der Menschheit liegt zu expandieren.“ Darin sieht die Amerikanistin die Fortführung einer amerikanischen Eroberungsrhetorik. „Es wird mit diesen Filmen und Serien vermittelt, dass die Menschheit auf der Erde nicht überleben kann und eine Expansion ins Weltall unvermeidlich wäre, der logische nächste Schritt. Dabei ist das wiederum wirklich reine Fiktion.“ Viel sinnvoller sei es doch, den Pioniergeist dafür aufzubringen, die Erde nicht zu zerstören als die Vorstellung zu verbreiten, es sei leicht machbar, das Universum nachhaltig zu gestalten.

 

Es gibt sogar einen neuen, feststehenden Begriff für diese Vorstellungen der Kolonialisierung des Universums: „Astrofuturismus“ bezeichnet eine neue Utopie, die der Menschheit ein neues Leben auf anderen Planeten im All nicht nur voraussagt, sondern als unvermeidlich darstellt. Die Dystopie auf der Erde ist darin gesetzt. Ein Beispiel dafür ist das Buch „How we’ll live on Mars“ von Stephen Petranek, das voraussagt, wie Menschen im Jahr 2027 auf dem Mars leben werden. Das Buch ist in den USA sehr erfolgreich, Petranek tourte damit durch Talkshows, sprach darüber in einem TED-Talk, einer beliebten Innovationskonferenz in Kalifornien. „Aktuell sind Apokalypsen und Dystopien sehr en vogue. Dabei brauchen wir positive Erzählungen über die Zukunft, die mehrere Möglichkeiten offen lassen – damit wir uns nicht reale Handlungsmöglichkeiten verbauen“, findet Ganser.

 

Tatsächlich sind auch Wissenschaftler nur Menschen und ausnehmend viele von ihnen waren als Kinder begeisterte Science-Fiction-Fans. Der amerikanische Raketenforscher Robert Goddard interessierte sich für das Weltall, weil er als Kind „Krieg der Welten“ von H. G. Wells gelesen hatte. Wells gilt heute neben Größen wie George Orwell, Stanislaw Lem oder Aldous Huxley als der Shakespeare der Science-Fiction-Literatur. Goddard hatte später als erfolgreicher Raketenforscher, nach dem sogar ein Mondkrater benannt ist, Wells einen Brief geschrieben, in dem er ihm für die Inspiration dankte. Auch der deutsche Forscher Jürgen Schmidhuber, ein Pionier der sogenannten neuronalen Netze, die ein Teil von selbstlernender künstliche Intelligenz sind, war schon als Kind ein Science-Fiction-Liebhaber.

 

Schmidhuber ist heute wissenschaftlicher Direktor bei der IDSIA, einem Schweizer Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz. Er nennt als Lieblingsromane seiner Kindheit Daniel F. Galouyes „Simulacron 3“, der Roman beschrieb schon 1964 das Hochladen eines menschlichen Verstandes in eine Computersimulation. „Visionär war außerdem William Gibsons Neuromancer-Trilogie aus den 1980er Jahren, die von einer KI erzählt, die im Cyberspace Menschen manipuliert. Die Bücher gab es, bevor es das www gab“, sagt Schmidhuber. Er kennt unglaublich viel Science-Fiction, ist aber ein äußerst kritischer Konsument: „99 Prozent der Science-Fiction ist Schrott. Aber 0,1 Prozent sind Perlen.“ Als Schmidhuber ein Kind war, las er viel. „Was mir an den Büchern meistens sehr unrealistisch erschien, war die Menschenzentriertheit. Denn wahrhaft kluge KIs interessiert sich wohl kaum für Menschen. Damals schon schien mir: Ich muss radikaler denken als diese immer noch eher zögerliche Science-Fiction.“ Dieser Impuls mündete darin, dass der 15-jährige Schmidhuber die Idee verfolgte, eine sich selbst verbessernde künstliche Intelligenz zu bauen, die klüger ist als er selbst. Was daraus wurde, ist bekannt: Einige Jahrzehnte später wandte Google seine sogenannten „Deep Learning“-Netzwerke an, sie sind ein Teil der Mustererkennung von künstlicher Intelligenz. Die New York Times hat über ihn mal geschrieben: „Wenn künstliche Intelligenz einmal heranwächst, dann wird sie Jürgen Schmidhuber einmal Papa rufen.“

 

Selbstverständlich sind Informatiker nicht unbedingt überlegene Ratgeber in Sachen Lesestoff, Unterhaltung und Kunst. Aber es könnte möglicherweise doch eine Rolle spielen, welche Bücher und welche Filme diejenigen gut finden, die die Zukunft der Menschheit gerade gestalten.

 

Wenn unsere Gesellschaft darüber nachdenken soll, wohin all die technologischen Entwicklungen führen werden, dann ist es von Vorteil, einen hypothetischen Blick in die Zukunft zu wagen und Science-Fiction ernst zu nehmen – egal ob es um künstliche Intelligenz, Robotik, Gentechnik oder die Folgen des Klimawandels geht.

 

Denn im Grunde sind sich beide Disziplinen sehr viel ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Es ist die eine Frage, die Menschen bewegt: Was wäre, wenn?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Judith Blage
Judith Blage ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Frank-furter Allgemeine Zeitung und die Welt.
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