Utopische Filme

Die Science-Fiction der DEFA

Es mag überraschen, dass hier ausgerechnet ein ziemlich althergebrachter und in das semantische Feld des ausrangierten Sozialistischen Realismus, kurz Sozrealismus, gehöriger Begriff für den Versuch herhalten soll, die DEFA-Science-Fiction-Filme aus heutiger Sicht zu konzeptualisieren – jener der Widerspiegelung. Denn obwohl es natürlich auch die Idee des „utopischen Films“ war – wie das Genre in der Deutschen Demokratischen Republik in Umgehung des englischen Begriffs genannt wurde –, über Zukunftsszenarien die Darstellungsgebote und -verbote des eng gestrickten Vergangenheits- und Gegenwartsbezugs abzulegen und im besten Fall ganz zu umschiffen, so lässt sich gerade in jenem Genre, das die wohl weiteste imaginäre Reise weg von allen konkreten Lebenskonstellationen und Koordinatensystemen, auch des Sozrealismus, unternimmt, ein fixer strategischer Bezugspunkt erkennen: das (sozialistische) Zusammenleben, die friedliche Koexistenz im (Welt-)Raum. Was sich im DEFA-Science-Fiction-Film widerspiegelt, ist folglich der – so fiktive wie reale – Traum von einer Fortschrittsgesellschaft, die von humanistischen Vorstellungen geprägt ist, eine Harmonie zwischen Aufbruch in unbekannte, fremde Welten und Finden des eigenen Ichs – im Wir – anstrebt und die nicht zuletzt eine Rolle spielen will, ja muss, im politischen Gefüge des Planeten Erde: die Rolle des Kommunikators nämlich, der zwischen den beiden Machtblöcken vermittelt, zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, zwischen Technik und Sozialem, zwischen Wissenschaft und Erotik – und somit auch zwischen den Geschlechtern.

 

Schon allein die Benennung all dieser impliziten und expliziten gesellschafts- und kulturpolitischen Ansprüche, die an die Filme im Einzelnen und das Genre als Gesamtes gestellt werden, macht deutlich, wie hoch die Latte jeweils hing und wie schwer das ethisch-moralische Gepäck war, das hier transportiert werden sollte. Das mag auch der Grund dafür sein, dass sich über die genrespezifischen Vorstellungen der utopischen Befreiung des Menschen von Raum und Zeit mitunter eine stark spürbare Gravitation legt, die den langen Weg vom Drehbuch via Leinwand – oft im zukunftsträchtig-majestätischen 70-mm-Totalvision-Format – zum Publikum markiert. Ausgerechnet da, wo kosmisch-physikalische Qualitäten vorherrschen könnten, im Sinne eines Versprechens der Schwerelosigkeit oder des Ausstiegs aus kausal-logischen Modellen etwa, manifestieren sich in jenen Weiten, die die DEFA-Science-Fiction-Filme erschließen, letztlich Konstellationen, die rudimentären gesellschaftlichen Trägheitsgesetzen eher zu gehorchen scheinen als sie zu überwinden und die von Konventionen zeugen, die man im eigenen ästhetisch-sozialpolitischen Jargon vermutlich in die Rubrik (klein)bürgerliche Philosophie schieben müsste. Dies jedoch in superben Space-Designs und Sets sowie künstlerisch wie handwerklich begeisternd experimentellen Soundscapes, die insgesamt von der nachhaltigen Etablierung einer wissenschaftlichen Fantastik im Kino der DDR sprechen lassen.

 

Je nach konkretem Entstehungszeitraum – denn dieser ist sowohl in Bezug auf die weltweiten Entwicklungen des Genres relevant, insbesondere jenen in der UdSSR, als auch im Hinblick auf die realen „roten“, unter den Vorzeichen des Kalten-Kriegs-Space-Race inszenierten, Eroberungszüge des Kosmos – arbeiten sich die „utopischen Filme“ also an der Frage ab, wie die ausgeflaggten Sputnik- und Friedensmissionen sozialistischer Prägung in eine Ästhetik münden kann, die den Anforderungen des Genres entspricht. Die da wären: An der Schnittstelle von Romantik, Wissenschaft, Technik, Kybernetik und Futurologie populäre – und das heißt packende, faszinierende, unterhaltsame – Szenarien zu entwerfen und durchzuspielen. Gerade weil aber dieses Genre immer auch Hypothesen formuliert – das „novum“ nach Darko Suvin –, die die Menschheit neu denken lassen sollen, müssen die Begrenzungen des jeweils Möglichen, anders gesagt: die Grenzen der spekulativen Mimesis wie der kognitiven Verfremdung stets aufs Neue ausgetestet werden.

 

In allen vier großen DEFA-Science-Fiction-Filmen – „Der schweigende Stern“ (1959), „Signale“ (1970), „Eolomea“ (1972) und „Im Staub der Sterne“ (1976) – steht demnach die Frage idealer soziale Ordnungen im Zentrum. Und sie verschiebt sich entlang der Trajektorien der sozialistisch-osteuropäischen Nachkriegskulturpolitik vom Staatstragenden zu den Mikrokosmen des Privaten, vom Hochplateau der Völkerverständigung bis in die Niederungen geschlechtlichen Treibens, vom Bewusstsein weltpolitischer Verantwortung hin zur tranceartigen Seinsvergessenheit der Weltraumreisenden. Repräsentiert die Crew in „Der schweigende Stern“ noch eine vorbildliche internationale Forscherelitengemeinschaft, deren Handlungen streng rational motiviert sind, dem Fortschritt dienen und in der Opferbereitschaft des Einzelnen für die Wissenschaft und das Wohl der Gesellschaft gipfeln, so nehmen sich die Abenteuer „Im Staub der Sterne“ eher als ekstatische körperlich-sinnliche Trips zwischen archaischer Zivilisationserfahrung und exotisierender Schaulust aus, deren politische Dimension einer karnevalesken Fantastik zu weichen scheint.

Doch so sehr sich auch die jeweiligen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, verändern, so fällt auf, dass sich jenseits der konkreten gesellschaftspolitischen Kontexte, in denen die vier Filme – meist übrigens als Co-Produktionen mit sozialistischen Brüderländern – entstanden sind, und unabhängig davon, ob wir uns auf Venus, in der Nähe des Jupiters, der „Eolomea“ oder schließlich „TEM 4“ befinden, schon allein im Drehbuch-Kern eine – am Ende irgendwie stets unerfüllte – Sehnsucht nach dem Gebrauchtwerden abzeichnet. Die in die Weiten des Alls aufbrechenden Kollektive der DEFA-Science-Fiction-Filme orten Spuren und Signale, die sie als Kommunikationsgesuche wahrnehmen, oft auch als Hilferufe – und es gilt, nicht nur wie im Abenteuerroman Aufgabe für Aufgabe zu lösen, sondern noch einen Schritt davor erst zu verstehen, was genau die Aufgabe ist – beziehungsweise: ob es sich überhaupt um eine solche handelt. Denn die wahren Katastrophen bleiben oft genug aus, die Aggressoren bleiben gesichtslos – gleichsam virtuelle Materie. Es ist dieses unterm Strich hörbare und durchaus auf die fragile weltpolitische Stellung des Staats beziehbare „Wer braucht uns?“, das zusätzlich zu allen genrespezifischen Kontingenzen hier in die radikale Offenheit eines existenzialistischen „Wer will mich?“ übergeht. Der ambivalente Status quo des gänzlich irdischen Lebens in der DDR wird da, wo Planeten oder mögliche Überlebende nicht antworten, Raumschiffe mysteriös verschwinden oder sich Notrufe als falsch herausstellen, stets mitverhandelt.

 

Den Anfang machte 1959, zwei Jahre nach dem Sputnik-Start und zwei Jahre vor dem Mauerbau sowie Jurij Gagarins Durchbruch aller symbolischen Schallmauern, die erste Science-Fiction-Co-Produktion überhaupt zwischen der DDR und Volksrepublik Polen, „Der schweigende Stern“, in der Regie von Kurt Maetzig – eines Kenners der klassischen Film-Genre-Kanons – basierend auf dem ersten Roman des späteren polnischen Kultautors Stanisław Lem „Die Astronauten“ bzw. „Der Planet des Todes“. Erst nach zwölf Drehbuch-Fassungen durchaus namhafter Autoren wurde das im damaligen Zukunftsjahr 1970 angesiedelte internationalistische Venus-Expeditions-Abenteuer des Raketenraumschiffs Kosmokrator zugelassen, ein bis heute gerade mit Blick auf die Ausstattung und technisches Know-how zurecht vielgerühmter Beitrag der DEFA zur Science-Fiction.

 

Schon zur Entstehungszeit erkannte man allerdings, dass sich hinter den nur halb entschlüsselten Signalen, die auf einer 1908 in der Wüste Gobi niedergegangenen Spule aufgezeichnet wurden, mehr als die Botschaft der möglichen atomaren Bedrohung der Erde und einer feindlichen, aus den Rudern gelaufenen Vernichtungsmaschinerie verbirgt. Gleich drei der acht Besatzungsmitglieder – sieben Männer, eine Frau, die japanische Ärztin Sumiko – müssen sich am Ende opfern, darunter der deutsche Pilot Brinkmann; das Kollektiv unter der Leitung des sowjetischen Astronauten Arsenjew – unter Mitwirkung eines amerikanischen Atomphysikers, polnischen Ingenieurs und Kybernetikers, indischen Mathematikers, afrikanischen TV-Technikers und chinesischen Linguisten und Biologien – leistet Vorbildliches in Sachen Forschung und Heldenmut. Gleichzeitig gibt ein Kraftfeld mit nicht erklärbarer Energie große Rätsel auf, die mindestens genau so hartnäckig sind wie jene Hürden, die Sumikos und Brinkmanns sich anbahnende erotische Beziehung nicht überwinden wird.

 

Eine knappe Dekade später dreht der DEFA-Genrefilmer Gottfried Kolditz mit „Signale – ein Weltraumabenteuer“ – erneut eine deutsch-polnische Kooperation – einen filmtechnisch ebenfalls sehens- und hörenswerten modernistischen Film, dessen sozialphilosophische Dimension allerdings einen gehörigen Bremseffekt erzeugt. Sinn und Zweck der selbst auferlegten Rettungsaktion werden immer undurchschaubarer, die Aufmerksamkeit verschiebt sich auf interne Befehlsstrukturen sowie vermeintliche Technikprobleme („Warum hört ihr uns nicht?“) und schließlich an den Strand, wo sich die Schaulust des Zuschauers, wie es in einer Rezension hieß, auf „Bikini-Nixen“ richtet. Das genderpolitische Versprechen drohte auch im Kommunismus ein leeres zu bleiben – oder zumindest ein ungelöster Nebenwiderspruch –, eine Sache der Zukunft eben.

 

Umso spürbarer wird die Verlegung der „Kontakt-Sucht“ in den Bereich der – in „Signale“ recht schlüpfrigen und dennoch gehemmten – Erotik, eine Verschiebung, die Zschoches „Eolomea“ schon in Angel Wangensteins Drehbuch bewusst aufgreift und in Richtung Psychologie weiterführt. Die deutsch-sowjetisch-bulgarische Ko-Produktion fährt nicht nur brillante elektromechanische Modelle auf, sondern mit Cox Habbema als Prof. Maria Scholl auch eine zunächst verschärft operierende, dann aber sich ganz ihrer Liebe hingebende Heldin, die verschwundene Raumschiffe und unerforschte Lichtsignale vergessen lässt. Sexualität, Liebe und die Verknüpfung der Weltraum-Semantik mit grundlegenden familiären Problemen verweisen in „Eolomea“ endgültig auf die genuine Nähe des „utopischen Films“ zum sozialistischen Gegenwartsfilm.

 

Den Schlusspunkt im utopischen Langspielfilm setzt der bereits erwähnte Kolditz-Film „Im Staub der Sterne“, produziert von der Künstlerischen Arbeitsgruppe „defa futurum“, die zwischen 1971 und 1981 auch weitere kürzere experimentelle Arbeiten zum Thema herstellte, Prädikat: crazy! Jana Brejchová als Kommandantin Akala steht in diesem Spektakel vor extremen Problemen – einem Notruf, der gar keiner war sowie einer „mentalen Blockade“ ihrer gesamten Crew, ausgelöst durch einen Ultraschallpistolenschuss während eines rauschenden vom Herrscher des Planeten TEM 4 veranstalteten Fests. Der Plot des Sklavenaufstands löst sich in den Kostümen und im Dekor fast vollständig auf, laszive Sinnlichkeit und verspielte Erotik nehmen jenen Ort ein, der im Science-Fiction-Film der DEFA leer bleibt, weil er konstitutiv leer bleiben muss: den der Reibung, der Feindschaft und der Konfrontation. Die Aufgabe lautet friedliche Koexistenz. Diese spannend zu inszenieren stellt das Genrekino weltweit, nicht nur in der DDR, vor spürbare Probleme.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Barbara Wurm
Barbara Wurm ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Ostslawische Literaturen und Kulturen der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat zum sowjetischen Kulturfilm promoviert und ist freiberuflich als Film-Kuratorin und -kritikerin tätig.
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