Nachdem Martin Luther Papst geworden war

Alternativweltromane der Science-Fiction

In Dicks Alternativwelt sieht die Lage so aus: Durch die Ermordung Präsident Roosevelts 1932 gelang es den USA nicht, die schwere wirtschaftliche Depression zu überwinden. Sein Nachfolger führt eine isolationistische Politik, die es den „Achsenmächten“ erlaubt, ganz Europa, schließlich auch Nordafrika und den Nahen Osten zu unterwerfen. Deutschland ist damit im Besitz gewaltiger Ölreserven und hat außerdem die Atombombe entwickelt. Entscheidend für den Sieg der Deutschen und der mit ihnen verbündeten Japaner und Italiener ist allerdings nicht der Abwurf einer Atombombe oder eine große Schlacht, sondern die Tatsache, dass Hermann Göring Hitler überreden kann – was er in der wirklichen Welt tatsächlich versucht hat –, die Radarstationen auf den britischen Inseln zu bombardieren, statt Terrorangriffe auf die Städte zu fliegen. Dieses Detail entscheidet die Schlacht um England.

 

Nach dem 1947 gewonnenen Krieg haben Japan und Deutschland die USA unter sich aufgeteilt. Im Westen herrschen die Japaner über die besetzten Pazifikstaaten, in den Ost-, Süd- und Mittelstaaten führen die Deutschen ein strenges rassistisches Regime. Während Japan auf den Heimatinseln und in seinem Machtbereich zu einem aufgeklärten und freizügigen Buddhismus zurückgekehrt ist, der andere Rassen toleriert, setzten die Deutschen ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Juden in den USA fort. Nach ihrem Sieg haben sie auch die schwarze Bevölkerung Afrikas ausgerottet, das Mittelmeer trocken gelegt und die Sahara fruchtbar gemacht; eine deutsche Expedition ist zum Mars unterwegs.

 

Als der Nachfolger Hitlers, Martin Bormann, 1962 stirbt, setzt sich Goebbels in den darauffolgenden Diadochenkämpfen durch und wird der neue Führer, der sofort einen Atomschlag auf die einzige noch verbleibende konkurrierende Weltmacht, nämlich Japan, vorbereitet.

 

Im Roman von Otto Basil hat das Deutsche Reich den Krieg durch einen Atombombenabwurf über London gewonnen. Europa steht unter deutschem Protektorat, die USA werden von einer berlinhörigen Marionettenregierung des Ku-Klux-Klans beherrscht. Der pazifische Raum steht unter dem Einfluss Japans, der einzigen Weltmacht außer dem Deutschen Reich.

 

Im Reich selbst ist die nationalsozialistische Ideologie mit all ihren Abartigkeiten zur vollen Blüte gelangt. Die absurdesten Ideen haben sich entwickelt und sind bis zum Wahnsinn weitergeführt worden. Es ist eine Albtraumlandschaft, die geprägt ist von nordischem Mystizismus, esoterischen Tollheiten, angefüllt mit SS-Ordensburgen, Zuchtmutterklöstern, Werwolfverbänden, brutalsten Vernichtungsmechanismen und parapsychologischen Dienstleistungsunternehmen. In Basils Roman sind die nationalsozialistischen Vorstellungen eines „neuen Europa“ Wirklichkeit geworden. Die Welt allerdings geht auch in diesem Roman am Schluss in einer atomaren Katastrophe als Folge eines deutsch-japanischen Weltkrieges unter.

 

Es besteht allerdings bei diesen und ähnlichen Romanen eine gewisse Gefahr, dass durch die Darstellung von Alternativen die tatsächlich verübten Greueltaten Nazi-Deutschlands verharmlost werden.

 

Betrachtet man die Gesamtheit der Alternativwelt-Romane, so wird schnell deutlich, dass sie oft dystopischen Charakter haben. Die Alternativwelt ist in der Regel nicht besser als die reale, auch wenn in ihnen der eine oder andere sympathische Zug gegenüber unserer eigenen Welt hervorgehoben wird. Diktaturen und Ideologien tragen nicht zum Fortschritt der Menschheit bei, auch nicht zum technischen, sondern sie verzögern die Entwicklung des Menschengeschlechts – so ihre kaum versteckte Botschaft. Mit anderen Worten: Die Mehrzahl der Autoren ist eigentlich der Meinung, dass unsere Welt zwar verbesserungswürdig, aber im Vergleich zu möglichen anderen – Leibniz lässt grüßen – doch die beste sei.

 

Das literarische Genre Science-Fiction wird in Deutschland im Vergleich zu anderen Literaturgenres gern als vor allem trivial oder minderwertig beurteilt. Science-Fiction gehört nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zum literarischen Kanon. Vor diesem Hintergrund hat es der Alternativwelt-Roman in Deutschland schwer, sich einen breiteren Leserkreis zu erobern. Dabei ist gerade dies eine Gattung, die besonders qualifizierte Leser ansprechen könnte. „Alternativwelt-Geschichten“, schreibt Karl Michael Armer, „stellen eine Fülle hoher und widersprüchlicher Anforderungen. Sie verlangen fundierte historische Kenntnisse, einen Spieltrieb, der sich gerade an komplexen Aufgaben besonders entzündet, und eine geradezu anarchistische Lust am Einreißen, Infragestellen, Tabuverletzen. Mit anderen Worten: Sie erfordern beim Autor wie beim Leser ein Psychogramm, das Lesefreude, intellektuelle Ernsthaftigkeit und Lust am bunten Spektakel unter einen Hut bringt.“

 

Die große Welt wie auch unser kleines individuelles Leben werden täglich vor Alternativ-Entscheidungen gestellt. Alternativwelt-Romane machen uns dies auf anspruchsvolle und oft auch höchst vergnügliche Weise bewusst. Ist diese Literaturgattung möglicherweise damit auch in der Lage, unseren eigenen Blick auf das Leben, ja vielleicht sogar unser Leben selbst zu schärfen? Und vielleicht kann sie im besten Fall ein klein wenig Hoffnung spenden – wie etwa Dirk Rossmanns Bestseller „Der neunte Arm des Oktopus“ von 2020. Darin gelingt es den Regierungen Chinas, Russlands und der USA durch eine in unserer Gegenwart gegründete Klima-Allianz die Erde bis 2100 zu retten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.

Georg Ruppelt
Georg Ruppelt ist Autor, Herausgeber und Kolumnist.
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