Georg Ruppelt - 2. Juli 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Science-Fiction

Nachdem Martin Luther Papst geworden war


Alternativweltromane der Science-Fiction

„Wie gut, dass die Ururgroßeltern damals die Abfahrt der Titanic verpasst haben!“ – „Wenn ich 2015 nicht Urlaub auf Malle gemacht hätte, wäre ich heute mit jemand anderem zusammen.“ Überlegungen dieser Art hat wohl jeder schon einmal angestellt, und jedem werden gewiss Entscheidungen oder Ereignisse einfallen, die sein Leben nachhaltig bestimmt haben.

 

Auch die Geschichte kennt Wendepunkte, die entscheidend waren für die Zukunft der Welt. Die früher im Geschichtsstudium strikt verbotene Frage nach dem „Was wäre, wenn …?“ wird in der Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit durchaus ernsthaft gestellt. Wenden wir diese Frage einmal auf ganz wenige Daten der Weltgeschichte an. Was wäre also gewesen, wenn z. B.

 

  • Alexander der Große nicht so früh gestorben wäre;
  • die Mauren in Spanien gesiegt hätten;
  • Martin Luther als Ketzer verbrannt worden wäre;
  • Napoleon bei Waterloo gesiegt hätte;
  • Lenin nicht aus der Schweiz nach Petrograd transportiert worden wäre;
  • die Widerständler des 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen wären;
  • die Attentäter des 11. September 2001 vor ihrem Massenmord entdeckt und festgenommen worden wären?

 

Die Frage nach dem „Was wäre, wenn“ ist häufig auch von Autoren des literarischen Genres Science-Fiction gestellt worden. Alternativweltromane sind eine Untergattung dieser Literatur, die übrigens eine starke Affinität zu religiösen Themen besitzt. So etwa die Romantrilogie „Hammer und Kreuz“, erschienen 1993–1995, der amerikanischen Autoren Harrison und Holm, die davon ausgeht, dass im 8. und 9. Jahrhundert die Wikinger eine organisierte technikfreundliche Religion gegründet und das Christentum in Nordeuropa besiegt haben.

 

Zwei um 1970 erschienene Romane schildern ein 20. Jahrhundert, in dem die Katholische Kirche die Welt beherrscht, weil Martin Luther vier Jahrhunderte zuvor nicht die Reformation ausgelöst, sondern sich mit der Kirche arrangiert hat und Papst Germanian I. geworden ist. Im zweiten Roman ist Königin Elisabeth I. 1588 einem Attentat zum Opfer gefallen und Spanien hat den Krieg gewonnen. In diesen Welten ist die Technik unterentwickelt. Der Güter- und Personenverkehr wird mit gewaltigen Dampfmaschinen auf Straßen abgewickelt: „Die Bulle Petroleum Veto von 1910 hatte den Hubraum von Verbrennungsmotoren auf 150 Kubikzoll beschränkt. Die Benzinfahrzeuge hatten sich mit lustigen Segeln aushelfen müssen, damit sie überhaupt vorankamen“, so heißt es in Robert Keiths „Pavane“ (1966). Die Nachrichtenübermittlung erfolgt mithilfe von Signalmasten, wie in Kingsley Amis „Die Verwandlung“ (1976).

 

Andererseits hat in beiden Romanwelten die Kirche dafür gesorgt, dass Künste und Kultur hoch angesehen und verbreitet sind. Auch wurde die Umwelt nicht zerstört. Die Weltkriege haben nicht stattgefunden; Atombomben gibt es nicht; Namen wie Auschwitz oder Buchenwald haben keine Bedeutung. Einziger Gegenspieler des Kirchenstaates ist in „Die Verwandlung“ das Osmanische Reich, mit dem man gelegentlich Kriege führt, deren wirkliche, aber natürlich geheim gehaltene Absicht eine Bevölkerungsreduktion auf beiden Seiten ist. Fröhlich geht es in einem Alternativwelt-Roman „Der zeitgereiste Napoleon“ (1987) von Harold Peirce zu. Darin hat Napoleon bei Waterloo gesiegt, und am Ende des 20. Jahrhunderts regiert sein Nachfolger als Napoleon V. ein vereinigtes Europa. Deutschland besteht aus 29 Kleinstaaten, die eine lose Konföderation eingegangen sind. Kaiser Napoleon V. meint: „Die Deutschen sind in erster Linie Dichter, Visionäre und Träumer; sie haben überhaupt keinen Sinn für das Praktische.“

 

Mit einem alternativen Verlauf der amerikanischen Geschichte beschäftigt sich ein Klassiker des Genres, Ward Moores 1953 erschienener Roman „Der große Süden“.  Darin haben die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen; sie sind eine reiche Agrarnation geworden. Der Rassismus regiert ein technisch kaum entwickeltes 20. Jahrhundert.

 

In Carl Amerys 1979 erschienenem Roman „An den Feuern der Leyermark“ hat Preußen 1866 den Krieg gegen Österreich, Bayern und Hannover verloren. Bayern wird der bedeutendste Staat Mitteleuropas – demokratisch, kunstliebend und freiheitlich. Im Anschluss an dessen Lektüre mag man sich fragen, ob der Welt ein „Führer“ Adolf Hitler erspart geblieben wäre, wenn sich bei einer anderen Weichenstellung im Jahre 1866 früher und nachhaltiger republikanische und demokratische Tendenzen in Deutschland hätten durchsetzen können; wenn es zu einer „großdeutschen“ oder gar keiner Einheitslösung gekommen wäre; wenn das Königreich Hannover nicht von Preußen annektiert, also mit Gewalt und ohne Berechtigung in dessen Besitz gebracht worden wäre.

 

Aus einem völlig anderen Grund findet in dem Alternativwelt-Roman „Als Wilhelm kam“ (1914) von Saki, das ist Hector Hugh Munro, der Erste Weltkrieg nicht statt. Darin startet Deutschland einen Überraschungsangriff auf England und besiegt dieses vor allem durch den Einsatz seiner Zeppelin-Luftflotte und überragender Kriegsschiffe innerhalb einer Woche.

 

Die Alternativwelt, die Christian Mähr 1991 in „Fatous Staub“ schildert, hat den Ersten und den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt. Die österreichische Monarchie wird von einem Kaiser Karl regiert, der offensichtlich etwas debil ist. Der Kaiser des Deutschen Reiches, Wilhelm II., hat bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das Zepter in der Hand und lässt seinen Macken freien Lauf, schadet dabei aber niemandem durch Krieg oder auch nur Kriegsgeschrei.

 

Ein Zeitraum ist von einer großen Zahl Alternativwelt-Romane immer und immer wieder behandelt worden, nämlich jene verfluchten Jahre zwischen 1933 und 1945. Bis auf wenige Ausnahmen haben in diesen alternativen Romanwelten Hitler bzw. das Deutsche Reich und seine Verbündeten den Krieg gewonnen. Zwei der besten Romane dieses Genres überhaupt gehören zu ihnen: „Wenn das der Führer wüsste“ von Otto Basil (1966) und „Das Orakel vom Berge“ von Philipp K. Dick (1962).

In Dicks Alternativwelt sieht die Lage so aus: Durch die Ermordung Präsident Roosevelts 1932 gelang es den USA nicht, die schwere wirtschaftliche Depression zu überwinden. Sein Nachfolger führt eine isolationistische Politik, die es den „Achsenmächten“ erlaubt, ganz Europa, schließlich auch Nordafrika und den Nahen Osten zu unterwerfen. Deutschland ist damit im Besitz gewaltiger Ölreserven und hat außerdem die Atombombe entwickelt. Entscheidend für den Sieg der Deutschen und der mit ihnen verbündeten Japaner und Italiener ist allerdings nicht der Abwurf einer Atombombe oder eine große Schlacht, sondern die Tatsache, dass Hermann Göring Hitler überreden kann – was er in der wirklichen Welt tatsächlich versucht hat –, die Radarstationen auf den britischen Inseln zu bombardieren, statt Terrorangriffe auf die Städte zu fliegen. Dieses Detail entscheidet die Schlacht um England.

 

Nach dem 1947 gewonnenen Krieg haben Japan und Deutschland die USA unter sich aufgeteilt. Im Westen herrschen die Japaner über die besetzten Pazifikstaaten, in den Ost-, Süd- und Mittelstaaten führen die Deutschen ein strenges rassistisches Regime. Während Japan auf den Heimatinseln und in seinem Machtbereich zu einem aufgeklärten und freizügigen Buddhismus zurückgekehrt ist, der andere Rassen toleriert, setzten die Deutschen ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Juden in den USA fort. Nach ihrem Sieg haben sie auch die schwarze Bevölkerung Afrikas ausgerottet, das Mittelmeer trocken gelegt und die Sahara fruchtbar gemacht; eine deutsche Expedition ist zum Mars unterwegs.

 

Als der Nachfolger Hitlers, Martin Bormann, 1962 stirbt, setzt sich Goebbels in den darauffolgenden Diadochenkämpfen durch und wird der neue Führer, der sofort einen Atomschlag auf die einzige noch verbleibende konkurrierende Weltmacht, nämlich Japan, vorbereitet.

 

Im Roman von Otto Basil hat das Deutsche Reich den Krieg durch einen Atombombenabwurf über London gewonnen. Europa steht unter deutschem Protektorat, die USA werden von einer berlinhörigen Marionettenregierung des Ku-Klux-Klans beherrscht. Der pazifische Raum steht unter dem Einfluss Japans, der einzigen Weltmacht außer dem Deutschen Reich.

 

Im Reich selbst ist die nationalsozialistische Ideologie mit all ihren Abartigkeiten zur vollen Blüte gelangt. Die absurdesten Ideen haben sich entwickelt und sind bis zum Wahnsinn weitergeführt worden. Es ist eine Albtraumlandschaft, die geprägt ist von nordischem Mystizismus, esoterischen Tollheiten, angefüllt mit SS-Ordensburgen, Zuchtmutterklöstern, Werwolfverbänden, brutalsten Vernichtungsmechanismen und parapsychologischen Dienstleistungsunternehmen. In Basils Roman sind die nationalsozialistischen Vorstellungen eines „neuen Europa“ Wirklichkeit geworden. Die Welt allerdings geht auch in diesem Roman am Schluss in einer atomaren Katastrophe als Folge eines deutsch-japanischen Weltkrieges unter.

 

Es besteht allerdings bei diesen und ähnlichen Romanen eine gewisse Gefahr, dass durch die Darstellung von Alternativen die tatsächlich verübten Greueltaten Nazi-Deutschlands verharmlost werden.

 

Betrachtet man die Gesamtheit der Alternativwelt-Romane, so wird schnell deutlich, dass sie oft dystopischen Charakter haben. Die Alternativwelt ist in der Regel nicht besser als die reale, auch wenn in ihnen der eine oder andere sympathische Zug gegenüber unserer eigenen Welt hervorgehoben wird. Diktaturen und Ideologien tragen nicht zum Fortschritt der Menschheit bei, auch nicht zum technischen, sondern sie verzögern die Entwicklung des Menschengeschlechts – so ihre kaum versteckte Botschaft. Mit anderen Worten: Die Mehrzahl der Autoren ist eigentlich der Meinung, dass unsere Welt zwar verbesserungswürdig, aber im Vergleich zu möglichen anderen – Leibniz lässt grüßen – doch die beste sei.

 

Das literarische Genre Science-Fiction wird in Deutschland im Vergleich zu anderen Literaturgenres gern als vor allem trivial oder minderwertig beurteilt. Science-Fiction gehört nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zum literarischen Kanon. Vor diesem Hintergrund hat es der Alternativwelt-Roman in Deutschland schwer, sich einen breiteren Leserkreis zu erobern. Dabei ist gerade dies eine Gattung, die besonders qualifizierte Leser ansprechen könnte. „Alternativwelt-Geschichten“, schreibt Karl Michael Armer, „stellen eine Fülle hoher und widersprüchlicher Anforderungen. Sie verlangen fundierte historische Kenntnisse, einen Spieltrieb, der sich gerade an komplexen Aufgaben besonders entzündet, und eine geradezu anarchistische Lust am Einreißen, Infragestellen, Tabuverletzen. Mit anderen Worten: Sie erfordern beim Autor wie beim Leser ein Psychogramm, das Lesefreude, intellektuelle Ernsthaftigkeit und Lust am bunten Spektakel unter einen Hut bringt.“

 

Die große Welt wie auch unser kleines individuelles Leben werden täglich vor Alternativ-Entscheidungen gestellt. Alternativwelt-Romane machen uns dies auf anspruchsvolle und oft auch höchst vergnügliche Weise bewusst. Ist diese Literaturgattung möglicherweise damit auch in der Lage, unseren eigenen Blick auf das Leben, ja vielleicht sogar unser Leben selbst zu schärfen? Und vielleicht kann sie im besten Fall ein klein wenig Hoffnung spenden – wie etwa Dirk Rossmanns Bestseller „Der neunte Arm des Oktopus“ von 2020. Darin gelingt es den Regierungen Chinas, Russlands und der USA durch eine in unserer Gegenwart gegründete Klima-Allianz die Erde bis 2100 zu retten.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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