Wiesbaden: Ungelöste Charakterfrage

Kultur und Identität in Wiesbaden

Goldmann hat das Bürgerbegehren gegen das Museumsprojekt früh unterstützt. Als sein Erfolg immer wahrscheinlicher wurde, zogen die Spitzen von Rat und Verwaltung kurz vor Weihnachten 2014 – im wahren Sinne des Wortes „über Nacht“ – die Reißleine: Nur einen Tag nach Präsentation der Pläne mit dem Architekten musste Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz (CDU) das neuerliche Aus für das Stadtmuseum verkünden. Der bereits erfolgte Grundstücksverkauf wurde im Jahr darauf rückabgewickelt. Die Stadt verlor dabei zwar Geld, aber bei weitem nicht so viel wie mit dem Museumsprojekt in Public Private Partnership (PPP).

 

Der sozialdemokratische Oberbürgermeister hat danach mehrfach erklärt, das Projekt sei in dieser Form „ein Fehler“ gewesen. Die CDU hingegen ist seitdem grundsätzlich verstimmt. Bereits vor dem Rückzieher – auch seiner Partei – hatte der Fraktionsvorsitzende Bernhard Lorenz in Interviews kaum verklausulierte Drohungen gegenüber der Freien Szene ausgesprochen. Gleichzeitig lobte er die Kulturdezernentin für ihre erfolgreiche Planung. Diese Sicht hat er bis heute einigermaßen exklusiv.

 

Unter anderem hatte Scholz nämlich öffentlich behauptet, das Museum sei ein „Geschenk“ des Immobilienentwicklers OFB an die Stadt. Auch ansonsten agierte sie mindestens unglücklich; in ihrer Amtszeit ging dem Wiesbadener Kulturleben so manche Institution verlustig. Darunter die Bien­nale „Wiesbadener Kunstsommer“, der im aktuellen Doppelhaushalt der städtische Zuschuss gestrichen wurde, oder auch das „Pariser Hoftheater“, ein echtes Kleinod von Freier Bühne in der Innenstadt. Nach Lesart der Dezernentin hatten dessen Macher 2014 freiwillig aufgegeben. Tatsächlich waren sie – nach immerhin 26-jährigem Bestehen – die permanente finanzielle Unsicherheit einfach Leid und haben die Stadt größtenteils verlassen.

 

Rose-Lore Scholz ist im „Magistrat“, das in Hessen teils haupt-, teils ehrenamtlich besetzte, operative Führungsorgan der Stadt, als beamtete Dezernentin für Kultur, Schule und Inte­gration tätig. Die CDU-Politikerin wird Anfang Januar 68 Jahre alt und erreicht damit die Altersgrenze für kommunale Wahlbeamte. Trotzdem wird sie nicht in Pension gehen: Die von der Gemeindeordnung vorgeschriebene Nachfolge ist nicht geregelt. Tatsächlich haben es die Parteien in der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung im Laufe des Dreivierteljahres seit den Kommunalwahlen im März 2016 nämlich nicht geschafft, eine „Regierungs“-Kooperation zu schmieden.

 

Der bisherige Zuschnitt des Scholz-Dezernats könnte der Macht-Arithmetik im künftigen Magistrat zum Opfer fallen und Oberbürgermeister Gerich die Kultur einem anderen der hauptamtlichen Dezernenten zuordnen. Oder er legt sie sogar in die Obhut eines der ehrenamtlichen Mitglieder. Das würde eine enorme Schwächung von Kunst und Kultur im politischen Gefüge der Landeshauptstadt bedeuten. Diese Gefahr hat den „Arbeitskreis Stadtkultur“ neuerlich auf den Plan gerufen. In einer Resolution fordert die Szene, die Stelle im Jahr 2017 öffentlich auszuschreiben. Ein detailliertes Bewerberprofil hat das Gremium vorsorglich gleich mitgeliefert. Dass man in der Wiesbadener Kommunalpolitik oft nicht so richtig weiß, was man eigentlich überhaupt wollen soll, wird von der Zivilgesellschaft mittlerweile eingepreist.
Das Problem ist ein kulturpolitisches – allerdings in einem viel tieferen Sinne als üblich: Der Stadt mangelt es an Identität. In der Bevölkerung herrscht große Fluktuation, eine Zwei-Drittel-Mehrheit der aktuellen Einwohner ist zugezogen; von den 40-Jährigen sind sogar nur 20 Prozent in Wiesbaden geboren. Die Stadt steht zudem für nichts, weder nach außen, noch nach innen. Der Oberbürgermeister versucht mit einer gefühligen Kampagne gegenzusteuern: „Vom Ich zum Wir!“ Inhalt? Fehlanzeige.

 

Gern kolportiert wird in diesem Zusammenhang das Zitat eines prominenten Wiesbadener Kulturmannes. Der hat in einer internen Diskussion – in Anlehnung an den berühmten Werbeslogan des Landes Baden-Württemberg – über Wiesbaden einen Satz gesagt, der seine wahre Sprengkraft erst beim dritten, fünften und zehnten Lesen in Gänze entfaltet: „Wir haben alles – außer Charakter!“

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2017 erschienen.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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