Wiesbaden: Ungelöste Charakterfrage

Kultur und Identität in Wiesbaden

Wiesbaden

  • Einwohner: ca. 290.000
  • Fläche: ca. 204 km²
  • Bevölkerungsdichte: ca. 1.354 Einwohner pro km²
  • Nächste Oberbürgermeisterwahl: 2019
  • Nächste Kommunalwahl: 2021
  • Oberbürgermeister: Sven Gerich (SPD)
  • Dezernentin für Schule, Kultur und Integration (bis Ende 2016):Rose-Lore Scholz (CDU)
  • Kulturausgaben: ca. 39 Millionen Euro pro Jahr
  • Kulturausgaben pro Einwohner: ca. 135 Euro pro Jahr

Wiesbaden hat es nicht leicht. Im Rücken der Stadt liegt der Rhein, dahinter gleich Mainz, also Rheinland-Pfalz. Und vor der Brust das riesige Frankfurt. Die hessische Metropole ist nicht nur ein kultureller Magnet, sondern auch ein kulturpolitisches Ausrufezeichen. Der große Hilmar Hoffmann als Dezernent und die charismatische Petra Roth als Oberbürgermeisterin prägten hier eine Ära exorbitanten kulturellen Auf- und Ausbaus.

 

Erschwert wird die Situation durch einen historisch begründeten Phantomschmerz. Im 19. Jahrhundert geriet das mittelalterliche Wisibada – das „Bad in den Wiesen“ – auf die europäische Landkarte: Der deutsche Kaiser liebte den Kurort und seine Thermalquellen; er zog erst den kontinentalen Hochadel in die Stadt, dann auch das wohlhabende Bürgertum aus aller Herren Länder.

 

Obwohl die Amerikaner Wiesbaden nach dem 2. Weltkrieg dann auch offiziell in den Stand einer Landeshauptstadt erhoben, kann die republikanische Gegenwart mit der glanzvollen Geschichte nicht so recht mithalten. Das schmerzt die Einwohnerschaft; die gehobenen Schichten und die Kulturschaffenden leiden darunter – auf unterschiedliche Art und Weise – ganz besonders. Vielleicht deshalb werden in Wiesbadens Kulturpolitik schon seit Jahrzehnten immer wieder mindestens seltsame Entscheidungen gefällt.

 

Die Abtretung des früheren Stadtmuseums an das Land Hessen im Jahre 1973 ist vielleicht die auffälligste. Das ist zwar lang her, wirkt aber bis heute nach, denn erst im September wurde ein neues Stadtmuseum eröffnet. Es trägt den Namen „sam“, eine Kurzform für „stadtmuseum am markt“. Eigentlich müsste es aber „sum“ heißen, weil es in einem alten Gewölbekeller unter dem zentralen Stadtplatz installiert wurde. 900.000 Euro hat Wiesbaden in die Sanierung gesteckt; diese Summe wird später im Text verschwindend gering wirken. „sam“-Kurator Torben Giese zeigt Stücke aus 40.000 Jahren Siedlungsgeschichte; Kern des Fundus ist die Sammlung Nassauischer Altertümer. Die wurde erst mit dem alten Stadtmuseum an das Land übertragen, 2010 erfolgte die Rückübernahme durch die Kommune. Ein typisches Wiesbadener Hin und Her.

 

In seinem Weihnachtsgruß Mitte Dezember lobte Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) die gelungene Eröffnung des „sam“ mit mehr als 2.000 Besuchern nachdrücklich. Dazu hat er auch allen Grund, war er doch an dessen unrühmlicher Vorgeschichte maßgeblich beteiligt: Erst als einfacher Stadtverordneter, dann als parlamentarischer Geschäftsführer, ab 2011 als Fraktionsvorsitzender der SPD im Rat. 2013 wurde er schließlich zum Stadtoberhaupt gewählt. In jenem Jahr nahm die Große Koalition aus CDU und SPD in der Volksvertretung bereits den zweiten Anlauf zu einem neuen Stadtmuseum innerhalb kürzester Zeit.

 

Dabei wurde ein innerstädtisches Filetgrundstück in einer Hauruck-Aktion an die OFB verkauft, eine Projektentwicklungstochter der Hessischen Landesbank. Der Preis betrug 14,5 Millionen Euro und lag deutlich unter dem offiziellen Verkehrswert. Die OFB sollte auf der hinteren Hälfte des Areals Wohn- und Geschäftsbauten errichten, auf der vorderen das Museum. Das wollte die Stadt anschließend mieten; 30 Jahre lang, für einen jährlichen Zins von gut 1,9 Millionen und einer Restzahlung von weiteren fünf Millionen Euro zum Ende der Laufzeit – Betriebskosten exklusive, natürlich. Dann wären Museum und Teilgrundstück wieder zurück an die Kommune gegangen, für eine Gesamtsumme von deutlich mehr als 60 Millionen Euro. Das erste Stadtmuseumsprojekt kurz zuvor war noch an der deutlich niedrigeren Kostengrenze von 24 Millionen krachend gescheitert.

 

Für die gut zweieinhalbfache Summe hätte es allerdings einen Ausstellungsbau aus der Feder des Stararchitekten Helmut Jahn geben sollen. Dessen internationale Referenzliste ist fast so dick wie das Wiesbadener Telefonbuch: Konzernzentralen, Flughäfen, Bahnhöfe, Shopping Malls. Jahn hat sehr viele Hochhäuser und Türme gebaut; ein originärer Museumsbau war allerdings nicht dabei. Schnell verspotteten die Wiesbadener seinen Entwurf aus Glas und Stahl mit acht Meter hohen Decken als „Autohaus“.

 

Die Folge war massiver Widerstand der Bevölkerung und vor allem der Kulturschaffenden. Im „Arbeitskreis Stadtkultur“ versammeln sich seit vielen Jahren mehr als 30 Einrichtungen der hessischen Landeshauptstadt, vom Aktiven Museum bis zum Velvets Theater. Fast alle gehören zur Freien Szene; als einziger Betrieb der Öffentlichen Hand ist das Staatstheater dabei (48 Prozent Stadt, 52 Prozent Land). Sprecherin des Gremiums ist Wiesbadens frühere Kulturdezernentin Margarethe Goldmann. Die parteilose Politikerin war 1986 bundesweit eine der ersten, die von den Grünen in dieses Amt geschickt wurde. Heute ist Goldmann eine veritable Nervensäge für die kulturpolitisch Verantwortlichen in der Stadt: Sie kennt und beherrscht die Machtmechanismen in Politik und Verwaltung, kann Haushalte lesen und weiß, wie man Bündnisse schmiedet.

Goldmann hat das Bürgerbegehren gegen das Museumsprojekt früh unterstützt. Als sein Erfolg immer wahrscheinlicher wurde, zogen die Spitzen von Rat und Verwaltung kurz vor Weihnachten 2014 – im wahren Sinne des Wortes „über Nacht“ – die Reißleine: Nur einen Tag nach Präsentation der Pläne mit dem Architekten musste Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz (CDU) das neuerliche Aus für das Stadtmuseum verkünden. Der bereits erfolgte Grundstücksverkauf wurde im Jahr darauf rückabgewickelt. Die Stadt verlor dabei zwar Geld, aber bei weitem nicht so viel wie mit dem Museumsprojekt in Public Private Partnership (PPP).

 

Der sozialdemokratische Oberbürgermeister hat danach mehrfach erklärt, das Projekt sei in dieser Form „ein Fehler“ gewesen. Die CDU hingegen ist seitdem grundsätzlich verstimmt. Bereits vor dem Rückzieher – auch seiner Partei – hatte der Fraktionsvorsitzende Bernhard Lorenz in Interviews kaum verklausulierte Drohungen gegenüber der Freien Szene ausgesprochen. Gleichzeitig lobte er die Kulturdezernentin für ihre erfolgreiche Planung. Diese Sicht hat er bis heute einigermaßen exklusiv.

 

Unter anderem hatte Scholz nämlich öffentlich behauptet, das Museum sei ein „Geschenk“ des Immobilienentwicklers OFB an die Stadt. Auch ansonsten agierte sie mindestens unglücklich; in ihrer Amtszeit ging dem Wiesbadener Kulturleben so manche Institution verlustig. Darunter die Bien­nale „Wiesbadener Kunstsommer“, der im aktuellen Doppelhaushalt der städtische Zuschuss gestrichen wurde, oder auch das „Pariser Hoftheater“, ein echtes Kleinod von Freier Bühne in der Innenstadt. Nach Lesart der Dezernentin hatten dessen Macher 2014 freiwillig aufgegeben. Tatsächlich waren sie – nach immerhin 26-jährigem Bestehen – die permanente finanzielle Unsicherheit einfach Leid und haben die Stadt größtenteils verlassen.

 

Rose-Lore Scholz ist im „Magistrat“, das in Hessen teils haupt-, teils ehrenamtlich besetzte, operative Führungsorgan der Stadt, als beamtete Dezernentin für Kultur, Schule und Inte­gration tätig. Die CDU-Politikerin wird Anfang Januar 68 Jahre alt und erreicht damit die Altersgrenze für kommunale Wahlbeamte. Trotzdem wird sie nicht in Pension gehen: Die von der Gemeindeordnung vorgeschriebene Nachfolge ist nicht geregelt. Tatsächlich haben es die Parteien in der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung im Laufe des Dreivierteljahres seit den Kommunalwahlen im März 2016 nämlich nicht geschafft, eine „Regierungs“-Kooperation zu schmieden.

 

Der bisherige Zuschnitt des Scholz-Dezernats könnte der Macht-Arithmetik im künftigen Magistrat zum Opfer fallen und Oberbürgermeister Gerich die Kultur einem anderen der hauptamtlichen Dezernenten zuordnen. Oder er legt sie sogar in die Obhut eines der ehrenamtlichen Mitglieder. Das würde eine enorme Schwächung von Kunst und Kultur im politischen Gefüge der Landeshauptstadt bedeuten. Diese Gefahr hat den „Arbeitskreis Stadtkultur“ neuerlich auf den Plan gerufen. In einer Resolution fordert die Szene, die Stelle im Jahr 2017 öffentlich auszuschreiben. Ein detailliertes Bewerberprofil hat das Gremium vorsorglich gleich mitgeliefert. Dass man in der Wiesbadener Kommunalpolitik oft nicht so richtig weiß, was man eigentlich überhaupt wollen soll, wird von der Zivilgesellschaft mittlerweile eingepreist.
Das Problem ist ein kulturpolitisches – allerdings in einem viel tieferen Sinne als üblich: Der Stadt mangelt es an Identität. In der Bevölkerung herrscht große Fluktuation, eine Zwei-Drittel-Mehrheit der aktuellen Einwohner ist zugezogen; von den 40-Jährigen sind sogar nur 20 Prozent in Wiesbaden geboren. Die Stadt steht zudem für nichts, weder nach außen, noch nach innen. Der Oberbürgermeister versucht mit einer gefühligen Kampagne gegenzusteuern: „Vom Ich zum Wir!“ Inhalt? Fehlanzeige.

 

Gern kolportiert wird in diesem Zusammenhang das Zitat eines prominenten Wiesbadener Kulturmannes. Der hat in einer internen Diskussion – in Anlehnung an den berühmten Werbeslogan des Landes Baden-Württemberg – über Wiesbaden einen Satz gesagt, der seine wahre Sprengkraft erst beim dritten, fünften und zehnten Lesen in Gänze entfaltet: „Wir haben alles – außer Charakter!“

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2017 erschienen.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
Vorheriger ArtikelStuttgart: Immer wieder Gründerzeit
Nächster ArtikelSaarbrücken: Im Kleinformat, aber stabil