Kapital der Kapitalen

Kultur in den Landeshauptstädten

Gleichzeitig gewinnt eine andere Bewegung an Fahrt, die auf lange Sicht vielleicht als ausgleichendes Element infrage kommt: Die Selbstorganisation und damit einhergehende Ermächtigung der privatwirtschaftlichen und/oder zivilgesellschaftlichen Kulturakteure. Sie treten mal als „Koalition der Freien Szene“ auf, mal als „Ständige Kulturvertretung“ wie in Thüringens Hauptstadt Erfurt oder als „Arbeitskreis Stadtkultur“, der im hessischen Wiesbaden der Kommunalpolitik permanent auf die Pelle rückt. Dort haben die Aktivisten ganz aktuell mit dafür gesorgt, dass die Verantwortlichkeit für die Kultur nicht aus der Stadtverwaltung in den ehrenamtlichen Teil des Politikbetriebes abgeschoben wurde. Jetzt nimmt der Kämmerer diese Aufgabe mit wahr – keine schlechte Ämterkombination.

 

Und die hessische Landeshauptstadt hat sich – nach langem Hin und Her – auch endlich zu einer Kulturentwicklungsplanung entschieden. Damit folgt sie dem Trend so verschiedener Kommunen wie Mainz und Potsdam, Düsseldorf und Saarbrücken. Überall hat man eingesehen, dass „Wachstum“ in der kommunalen Kultur – selbst in den vergleichsweise privilegierten Landeshauptstädten – nur durch mehr Konzeption und Koordination zu erreichen sein wird. Das gilt umso mehr für Gemeinwesen, die aus diesem oder jenem Grund sowieso auf der Suche nach sich selbst sind: Magdeburg und Hannover sind zwei prominente Beispiele.

 

Bezeichnenderweise wollen beide Städte aus ihrer Not eine Tugend machen und bewerben sich für das Jahr 2025 als Kulturhauptstadt Europas. Das macht auch Sinn: Ein, wenn nicht sogar das Kernkriterium für die Vergabe des begehrten Titels ist das Entwicklungspotenzial, dass die Jury in einer Stadt oder Region erkennt. Deshalb haben solche Bewerber die besten Chancen, die mental auf dem Weg sind und eine neue Identität entwickeln wollen. Ob man es gleich so zuspitzen muss wie in der Hauptstadt Niedersachsens mit dem Slogan „Hannover hat nichts“ auf einem ansonsten leeren, weißen Plakat, sei dahingestellt. Ganz sicher aber hat eine international profilierte Kulturmetropole wie Dresden – die bislang dritte deutsche Landeshauptstadt im Rennen um den Titel – bei Weitem keine so gute Ausgangsbasis, wie man zunächst annehmen sollte. Ein Blick auf die Kulturhauptstädte der jüngeren Vergangenheit, von Århus und Paphos in diesem Jahr bis zurück zur „Ruhr.2010“ in Essen, belegt das.

 

Die Bewerbungen zeigen andererseits, dass es an kultureller Substanz wie kulturpolitischer Ambition in den deutschen Landeshauptstädten nicht mangelt. Allen Unkenrufen zum Trotz ist Deutschland auch im Alltag eine Kulturnation. Gleichzeitig wird immer virulenter, dass und wer an ihr nicht teilhat oder -nimmt. Interessanterweise handelt es sich vor allem um zwei Gruppen, die in einer direkten Beziehung zueinander stehen: Einerseits jenes runde Viertel der Bevölkerung, das eine wie auch immer geartete Einwanderungsgeschichte hat und Museen,­ Theater, auch Bibliotheken immer noch kaum bis gar nicht nutzt. Und andererseits die scheinbar wachsende Zahl von Menschen, die sich nicht nur von genau diesen Migranten in ihrer Identität bedroht sehen, sondern auch zeitgenössischer Kunst und Kultur eher ablehnend gegenüberstehen.

 

Wir reden also über eine dreifache Herausforderung, die für die Zukunft des Landes von enormer Bedeutung ist: Die einen wie die anderen dürfen nämlich nicht dauerhaft in dem Bewusstsein leben, sie seien kein Teil der Kultur in Deutschland. Und dann müssen beide auch noch miteinander ins Gespräch darüber kommen, wie sie ihre gegenseitigen Vorbehalte aushalten lernen, solange sie nicht zu überwinden sind. Das kann nur in den Städten geschehen – und die Hauptstädte müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Wer glaubt, auf diesem Weg sei ausgerechnet die Einschränkung von Freiheit und Vielfalt nützlich, wird nicht nur von der jüngeren Geschichte dieses Landes eines Besseren belehrt. Auch das gehört eben zu unserer Kultur.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2017 erschienen.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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