Weichensteller seiner Zeit

Die Person Martin Luther damals und heute

Doktor, Gelehrter, Prediger und Theologe, Disputator, Philosoph, Dialektiker und Autor: Die Liste der Bezeichnungen, die Luther für sich selbst findet, ist lang. Ebenso vielfältig ist sein Werk: Predigten und Pamphlete, Disputationen und Debatten, Lieder und Gedichte, Vorlesungen, Bücher und Briefe. Wortgewandt vertritt er seine theologischen Entdeckungen, seine Gegner fürchten und bewundern ihn und seine machtvolle Rhetorik. Ob er mir als Gegenüber angenehm gewesen wäre? Menschen mit einer Mission können sehr anstrengend sein. Ich bin sicher, Martin Luther war für viele seiner Zeitgenossen eine Herausforderung, um es neutral zu formulieren.
Mein Jahrhundert, meine Kirche, unsere Gesellschaft wären heute ohne Luthers Wirken vollkommen anders. Er war ein Weichensteller in seiner Zeit. Und zwar aus einer vergleichsweise machtlosen Position heraus: Theologe in Wittenberg eben. Ich gebe zu, das gefällt mir.

 

Seine Texte: Ich bin kein Lutherspezialist. Was mich an seinen Schriften, die ich kenne, fesselt, ist dieses umfassende Ringen von Gefühl und Intellekt, auch die Enttäuschung über seine Kirche rührt mich an. Oder die alten Ängste vor der eigenen Schuld, denen er seine reformatorische Einsicht „Gott ist, der gerecht macht“ wie einen Schild entgegenhält. Da kämpft ein Mensch, das kann ich spüren über die Jahrhunderte hinweg.

 

„Ein feste Burg ist unser Gott“ sind martialische Worte gegen eine martialische Kirche und ihre Verteidiger. „Wehr und Waffen“ – diese Metaphorik des Schlachtfelds, der Belagerung. Dann wieder dichtet er, zärtlich und berührend. Für seine Sprache bewundere ich ihn uneingeschränkt: diese Poesie, diese Unmittelbarkeit. Die Neuschöpfungen für seine Bibelübersetzung bereichern das Deutsche bis heute: Lückenbüßer, Feuereifer, Machtwort oder Lockvogel sind nur einige Beispiele. Sie sind der hebräischen und griechischen Vorlage förmlich abgerungen: „… wo wir haben müssen schwitzen und uns ängsten, ehe denn wir solche Wacken und Klötze aus dem Weg räumeten…“ Übersetzen ist für Luther keine blutleere Schreibtischarbeit, sie ist ein physischer Kraftakt: Leiden und Leidenschaft. Passion?

 

In seinem Kampf ist die deutsche Sprache auch Luthers wichtigste Verbündete. Wie kann er seinen Mitmenschen den neuen Weg zum selbst zu „ver-antwortenden“ Glauben weisen? Sinnlich und geistig. Jede und jeder soll verstehen können und in Glaubensfragen mündig werden. Darum lauscht der Reformator der Sprache seiner Zeitgenossen und schaut dem „Volk aufs Maul“. Luthers kreative Genialität speist sich aus dem Alltag der Menschen, mit denen er umgeht.

 

Auch als Theologe ist Luther nah bei seinen Mitmenschen. Glaube und Welt sind für ihn untrennbar verbunden, das Leben in all seinen Facetten steht im Fokus seiner Theologie. Das Nachdenken über den christlichen Glauben und die biblischen Schriften bilden das lebendige Herz seines Handelns und Schreibens. Und diesen Herzschlag des Glaubens spürt man in allen seinen Schriften. Zentral in Luthers Auseinandersetzung ist die paulinische Auffassung von Freiheit. Auch die bringt er neu zum Strahlen. Luthers Verständnis dieser Freiheit ist bis heute inspirierend, auch wenn sich unsere Gesellschaft sehr verändert hat. Für uns ist, anders als für Luthers Zeit, die Idee eines freien Individuums längst eine – wenn häufig auch sehr oberflächlich und einseitig verstandene – Selbstverständlichkeit, sie prägt die Tiefenstruktur unserer Gesellschaft. Zu unseren Freiheitserfahrungen gehören aber auch Erfahrungen von Vereinzelung oder von quälenden Wahlmöglichkeiten, die einem mittelalterlichen Menschen fremd gewesen sein dürften.

 

Luther formuliert in seiner Freiheitsschrift: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Für Luther sind Freiheit und Gebundenheit zwei Seiten der gleichen Medaille. Die von Gott geschenkte Freiheit befreit aus dem Kreisen um die eigene Leistungsfähigkeit und Schuld, sie befreit Herz, Verstand und Hände zum selbst verantworteten Dienst am Nächsten. Frei sein nach Luther heißt auch, sich in Verantwortung zu üben – vor Gott und vor den Mitmenschen und nicht zuletzt vor sich selbst. Dabei liegt die Betonung auf „üben“: Die reformatorische Freiheit ist Freiheit im Prozess, sie entwickelt sich. Auch der Glaube ist nach Luther prozesshaft: Fromm bin ich nicht, fromm werde ich. Zweifel, Anfechtung und Unsicherheit gehören zu diesem Prozess des Frommwerdens, Glaube wird täglich neu gewonnen, so wie auch die Erfahrung der befreienden Gnade Gottes täglich neu geschenkt wird. Diese Erkenntnis erfüllt Luther mit einem unbändigen und ansteckendem Lebensvertrauen: Vertrauen in Gott, in sich selbst und schließlich in die Anderen. Im Vertrauen auf die gottgeschenkte Freiheit für sich und andere tätig werden zu können, befreit von Selbstverwirklichungs- und Selbstoptimierungszwängen unserer Zeit zu einem selbstbewussten Dienst an unseren Mitmenschen. Dafür stehen Kirche und Diakonie, das ist mir selbst in meinem Amt als Präsident der Diakonie Deutschland ein wichtiger Antrieb.

 

Martin Luther hat gezeigt, dass die Bibel in unser Leben spricht, er hat den Glauben sinnlich-geistlich konkretisiert und eine Idee von Freiheit entworfen, die zu Gott, zu uns selbst und in die Gemeinschaft mit Anderen führt. Nicht in irgendeine Gemeinschaft, sondern in eine, in der Recht und Gerechtigkeit, Erbarmen und Gotteserkenntnis in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Das ist eine religiöse, eine soziale und eine kulturelle Einsicht, die es zu schützen und zu entfalten gilt. Im Deutungshorizont lutherischer Rechtfertigung kann man deshalb nur mit Martin Luther hoffen: „Das gebe Gott, dass wir diese Freiheit recht verstehen und behalten!“

Ulrich Lilie
Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland.
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