Intellektueller Aufbruch

Luthers Bildungserbe ist unsere Motivation

Bildung! Humanismus! Aufbruch! Schlagworte der Reformation. Sie war eine Bewegung hin zu Aufklärung und einem kritischem Geist. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurden Bücher und Flugblätter zur neuen Massenware, wenngleich der Zugang zum gedruckten Wort weiterhin für viele ein Privileg blieb. Universitäten, besonders die junge Leucorea in Wittenberg, wurden zu Zentren junger Denker, die sich humanistischen Idealen verpflichtet fühlten. Kritische Köpfe wie Luther, Melanchthon oder Erasmus von Rotterdam brachen alte Denkmuster auf. „Zurück zu den Ursprüngen!“ hieß die neue Devise. Dieser intellektuelle Aufbruch war der Nährboden für die Reformation.

 

Luther und Melanchthon waren die Köpfe der Reformation in Deutschland. Doch sie galt nicht nur als Abspaltung von der katholischen Kirche. Sie ging in weiten Teilen mit einer Bildungsbewegung einher. Luthers Erkenntnis: Die Menschen haben zu wenig Wissen über die christliche Botschaft. Gottesdienste und Bibellesungen auf Latein, unzureichende Bildung – zahlreiche Hindernisse versperrten den normalen Menschen den Zugang zur Begegnung mit dem Evangelium. Fragen, Kritik und Reflexion über die Religion waren vielen kaum möglich. Luther wurde klar, dass man eine allgemein verständliche Bibel braucht. Denn das Evangelium bedeutete ihm Freiheit und Ausgang aus der Unmündigkeit. Frei soll der Mensch nach Luther sein, frei steht er vor Gott. Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche wurde so ein Meilenstein der Bildungsrevolution.

 

„Teilhabe für alle an Bildung, Schulen, die allen offen stehen und eine einfache Sprache, die alle verstehen. Das waren Forderungen der Reformatoren.“

 

Doch nicht nur das Was, sondern auch das Wie war für Luther wichtig. Er verfasste den „Sendbrief vom Dolmetschen“ und legte Kriterien für Übersetzungen fest. Man soll „dem Kutscher aufs Maul schauen“ und schreiben, wie die normalen Menschen reden. Dieser Aspekt ist heute aktueller denn je. Denn folgen wir diesem Anspruch in Politik, Wirtschaft oder Kultur genug? Ist unsere Sprache nicht oft abgehoben und schließt viele Menschen aus? Mancher versteckt hinter Polit-Jargon gar Unwissenheit oder fehlende Haltung. Wir sollten wieder von Luther lernen. Er übersetzte nicht immer wörtlich, sondern bilderreich und volksnah. Er kreierte Ausdrücke wie »ein Herz und eine Seele«. Seine Sprache wurde prägend für das Deutsch der kommenden Jahrhunderte und wirkte tief in die Kultur, Musik und Dichtung hinein.

 

Ein weiterer Schritt der Bildungsbewegung der Reformation war die langfristige Bildung und Erziehung der Jugend. Besonders Melanchthon verknüpfte Bildung mit Anthropologie: Der Mensch ist Schöpfung Gottes und sein Ebenbild. Als solches muss er gebildet werden. Neben Freiheit ist dies die zweite große reformatorische Idee: Gerechtigkeit. Luther formulierte die „Gerechtigkeit allein aus dem Glauben“. An der Gnade Gottes hängt, ob ein Mensch vor Gott gerecht ist. Keine Ablasszahlungen, kein Priester und keine Leistung sind notwendig, um vor Gott zu bestehen, sondern allein die Gnade Gottes. Um den Menschen Zugang zu dieser Erkenntnis, zum befreienden Wort Gottes zu ermöglichen, waren aber Bildung und die Fähigkeit zu lesen notwendig. Schulen sollten die Lehre popularisieren und das orientierende Wissen nicht mehr nur dem Adel vorbehalten. Das klingt fast modern: Man muss nicht „Profit“ bringen, um etwas wert zu sein, um seine Bestimmung zu erfüllen. Jeder Mensch ist als Mensch wertvoll und muss befähigt werden, seine Potenziale auszuschöpfen.

 

Teilhabe für alle an Bildung, Schulen, die allen offen stehen und eine einfache Sprache, die alle verstehen. Das waren Forderungen der Reformatoren. Klassische sozialdemokratische Forderungen. Luthers Positionen lesen sich bis heute, als wären sie Blaupausen für das Bildungsprogramm der SPD. Denn auch 500 Jahre später sind wir immer noch nicht da, wo wir sein wollen: ein Bildungssystem, das jedem Menschen die Chance auf Teilhabe und Aufstieg ermöglicht. Wo der Bildungserfolg von Kindern nicht mehr abhängig ist vom Elternhaus. Noch immer halten finanzielle Hürden Menschen von Bildung fern, z. B. zu hohe Kita-gebühren. Wir tüfteln weiterhin, wie wir eine breite Inklusion aller ermöglichen können – seien es Kinder mit Migrationshintergrund, Hochbegabte oder Menschen mit Einschränkungen im kognitiven Bereich. Und wir kürzen allzu oft an Stellen, die immens wichtig sind für unseren Zusammenhalt: an der kulturellen und religiösen Bildung. Religion ist Teil von Kultur, wenn man wie ich den Begriff umfassend betrachtet. Denn kulturelle und religiöse Bildung ist mehr als nur Wissensvermittlung. In einer vielfältigen Gesellschaft müssen verstärkte Dialoge über Wertvorstellungen, Normen und Verhaltensweisen stattfinden, um gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz zu erreichen. Kulturelle Bildung ist hier der Schlüssel. Kinder müssen frühzeitig lernen, neben Rechnen und Schreiben sich auch in der Tiefendimension der Religion und Philosophie zu begegnen und keine Angst vor dem Austausch auf dem Pausenhof zu haben. Wer weiß, wo er selbst kulturell und religiös steht, kann Verschiedenheit respektieren. Wir sollten 500 Jahre nach Luther endlich vollenden, was damals begann: die umfassende Bildungsrevolution zur Teilhabe aller.

Thorsten Schäfer-Gümbel
Thorsten Schäfer-Gümbel, MdL ist Fraktionsvorsitzender der hessischen SPD und stellvertretender Bundes-vorsitzender der SPD.
Vorheriger ArtikelDie andere Revolution der Lutherzeit
Nächster ArtikelWeichensteller seiner Zeit