Das katholische Erzbistum Berlin verdankt seine Existenz der evangelischen Reformation! Natürlich war der Protestantismus nur mittelbar an der Bistumsgründung beteiligt. Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass diese Beteiligung durchaus nicht nur freudige, sondern zunächst einmal sehr schmerzliche Erinnerungen weckt. Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, genügt schon ein Blick auf das heutige Wappen der Erzdiözese Berlin. Das gevierte Wappen erinnert an die vier Vorgängerbistümer auf dem heutigen Bistumsterritorium. Sie alle „gingen“ in der Reformation »unter«. Für die Katholiken in den alten Diözesen Brandenburg, Havelberg, Lebus und Kammin hatte das gravierende Folgen. Eine dramatische Verlustgeschichte begann, ja, mehr noch: die Geschichte eines nahezu vollständigen „Untergangs“. Denn in der Folgezeit wurde die katholische Religion in den protestantisch gewordenen Landen unterdrückt. Allenfalls heimlich konnte sie gelebt werden. Um der historischen Gerechtigkeit willen muss freilich sofort hinzugefügt werden: Andernorts widerfuhr evangelischen Christen dasselbe Schicksal unter katholischer Herrschaft. So wird deutlich: Protestanten und Katholiken sind durch eine gemeinsame Schuldgeschichte eng miteinander verbunden.
Erst im Jahre 1746 wurde wieder ein katholischer Kirchenbau in Berlin genehmigt. Jeder solle nach seiner Façon selig werden, so lautete bekanntlich die Losung Friedrichs des Großen. Er schenkte der kleinen Gemeinde persönlich Grundstück und Baumaterial. 1773 wurde die St. Hedwigs-Kirche eingeweiht. Sie gilt heute als Haupt und Mutter aller katholischen Kirchen im Erzbistum Berlin. Und noch immer bewegt sie die Herzen zahlreicher (Nicht-)Katholiken. Mit großer Freude gilt es daher anzuerkennen: Die Hedwigs-Kathedrale verdankt ihr Bestehen nicht zuletzt einem Protestanten!
Seit 1821 wurden Brandenburg und Pommern in kirchlich-katholischer Hinsicht dem Fürstbistum Breslau zugeschlagen. Je mehr jedoch Berlin zu einem weithin ausstrahlenden Zentrum des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt auch des religiös-weltanschaulichen Lebens aufstieg, umso drängender stellte sich die Frage, ob nicht das zu Breslau gehörende „Anhängsel“ in die kirchliche Selbständigkeit entlassen zu werden verdiente. Den entscheidenden Schritt bedeutete das Preußenkonkordat aus dem Jahre 1929. In seiner Folge wurde 1930 das Bistum Berlin errichtet. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde es 1994 im Zug einer territorialen Neuordnung zum Erzbistum erhoben. Wie gesagt: Ohne die Reformation würde es das heutige Erzbistum Berlin nicht geben!
Berlin hat sowohl die schmerzlichen als auch die freudigen Folgen und unbeabsichtigten Nebenfolgen der Reformation an sich erlebt. Weniger bekannt ist aber, dass die Metropole in ganz besonderer Weise auch für die vielfältigen ökumenischen Aufbrüche steht, die das 20. Jahrhundert brachte. Nur ein Jahr nach der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers 1933 äußerte der damalige Berliner katholische Bischof Nicolaus Bares nämlich mit Blick auf den Nationalsozialismus: Die Trennung von Katholiken und Protestanten lähme „die Stoßkraft des Christentums in dem Augenblick, wo die Zusammenfassung aller positiv christlichen Kräfte bitterste Notwendigkeit wäre gegen den Ansturm der Gottlosen und des Neuheidentums“. Ein unscheinbarer Satz mit nachhaltiger Wirkung. Der evangelische Religionshistoriker und Ireniker Friedrich Heiler erkannte die Gelegenheit sofort. Schon wenige Monate später berief er mit ausdrücklicher Billigung von Bischof Bares jene Veranstaltung in das damalige katholische Priesterseminar ein, die als „Hermsdorfer Gespräch“ in die Geschichte eingegangen ist. Es handelte sich um nichts Geringeres als um „die erste evangelisch-katholische Theologenkonferenz seit der Reformation auf deutschem Boden“, so Jörg Ernesti. Die Gespräche nahmen einen unerwartet guten Verlauf. Nach ihrem Abschluss stand für den evangelischen Theologen Karl Bernhard Ritter fest, dass der ursprüngliche Streitpunkt zwischen Protestanten und Katholiken, „die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben[,] uns von den lebendigen Vertretern der katholischen Theologie nicht mehr trennt“. Was für ein Schritt! Der Urkonflikt, der Protestanten und Katholiken gegeneinander aufgebracht hatte, schien plötzlich überwindbar zu sein. Tatsächlich unterschrieben 65 Jahre darauf Vertreter beider Konfessionen in Augsburg eine „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Ein Meilenstein für die Ökumene!
Ein vergleichbarer „Ansturm der Gottlosen und des Neuheidentums“, wie ihn Bischof Bares 1934 hellsichtig heraufziehen sah, steht heutzutage wohl nicht zu befürchten. Aber greift nicht die Herausforderung, vor der wir heute stehen, im Grunde sogar noch einmal tiefer? Scheint doch mitunter die Frage nach Gott selbst zu verdunsten. Eine große Aufgabe, vor der Christentum und Kirche heute stehen! Ich bin überzeugt: Wer nach Gott fragt, der fragt in letzter Linie nach dem Menschen. Und deshalb gilt auch umgekehrt: Wenn wir gemeinsam die Frage nach dem Menschen stellen, wenn wir immer wieder die letzten Grundfragen aufwerfen, die das menschliche Leben vom Anfang bis zu seinem Ende begleiten, und wenn wir dabei unbeirrt an der unantastbaren Würde festhalten, mit der der Schöpfer einen jeden von uns ausgestattet hat, dann machen wir damit die Stimme des Glaubens in unserer Zeit vernehmbar. Wenn sich die christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dieser Aufgabe stellen, dann werden sie auch über ihre engeren Grenzen hinaus als eine religiöse Gestaltungskraft erfahrbar, die für eine Kultur des Friedens und der Versöhnung wirbt – in unserer Region und weit darüber hinaus. Nicht zuletzt die historische Erfahrung von konfessionellem Streit und konfessioneller Verständigung befähigt sie dazu. Das 500-jährige Reformationsgedenken, das wir im kommenden Jahr begehen, gemahnt an eine gemeinsame Vergangenheit, die hinter uns liegt. Mehr noch aber an eine gemeinsame Zukunft, die vor uns liegt.
Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2017.