Die Lutheraner – das waren für uns Schweizer Reformierte immer „die Anderen“. Schon auch evangelisch natürlich, aber doch nicht ganz so reformiert wie wir in der Schweiz. Die Lutheraner hatten ein immer noch fast katholisches Verständnis vom Abendmahl, eine Zwei-Reiche-Lehre mit einer besonderen Geschichte, eine ausgeprägte Kirchenhierarchie und – horribile dictu – Bischöfe! Auch Bischöfinnen, das musste man zu ihrer Ehrenrettung sagen, aber dennoch … ganz geheuer waren sie uns nie.
Kein Wunder, dass Lutheraner und Reformierte erst 1973 in der Leuenberger Konkordie öffentlich feststellen konnten, dass all diese Differenzen keine kirchentrennende Bedeutung haben und man trotz alldem auf der jeweils anderen Kanzel predigen und gemeinsam Abendmahl feiern dürfe.
Und so sollte nun einem gemeinsamen Reformationsjubiläum auch nichts im Wege stehen. Das allererste Reformationsjubiläum 1617 wurde interessanterweise von Reformierten initiiert, die gegenüber einem wieder erstarkenden Katholizismus die Einheit des Protestantismus demonstrieren wollten. Dass nun 400 Jahre später so manches ziemlich lutherisch geprägt ist – inklusive des Logos „Luther 2017“, mit der alle Akteure der Lutherdekade und des Reformationsjubiläums landesweit und international werben können – nun ja, das lässt mich als Reformierte seufzen. Aber natürlich sind hier auch die staatlichen und touristischen Stellen mit dabei, die ein großes Interesse daran haben, mit einem Kopf und einer Person für die unzähligen Orte und Angebote werben zu können.
Zugleich betonen aber die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutsche Evangelische Kirchentag in den von ihnen verantworteten Veranstaltungen auch das Internationale, das Vielfältige, das Bunte des Reformationsjubiläums. Ein europäischer Stationenweg führt durch 68 Städte in 19 Ländern und in Wittenberg begegnen sich in der Weltausstellung Kirchen und Kulturen aus aller Welt.
Die Reformation ist kein großer, träger Strom, der einer Quelle entspringt und dann durch die Jahrhunderte unbeirrt seinen Weg zum Meer sucht. Sie speist sich vielmehr aus vielen Quellen, kleinen und großen, die sich zu Bächen vereinigen, Wiesen und Äcker bewässern und ihrerseits von Land und Boden eingefärbt und angereichert werden. Die Bäche kommen zu Flüssen zusammen oder auch nicht, versickern da und dort wieder und sprudeln als neue Quelle woanders wieder. Wer vermag zu sagen, welches nun der eine richtige, der reine Fluss ist?
Und nicht jedes Wasser ist lebensspendend. Schon in den ersten Reformationsjahren fielen Andersdenkende und Andersglaubende dem neuen Mainstream zum Opfer. Kurz nach dem ersten Reformationsjubiläum brach der Dreißigjährige Krieg aus. Die einen Vertreter des rechten Glaubens gegen die anderen Vertreter des rechten Glaubens. Es gibt auch Flüsse, die Fäule und Tod mit sich bringen. Da, wo Gift ins Wasser tröpfelt und davon profitiert, dass es sich im Fluss mit dem Wasser vermischt und doch heimlich oder auch öffentlich wirksam bleibt: Totalitarismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiislamismus, Nationalismus, Fundamentalismus, Egoismus. Da hängt es davon ab, dass dieses Gift identifiziert und ausgefällt werden kann – in dieser Welt wohl nie vollständig, aber doch so, dass der Fluss wieder lebensspendend wirken kann.
Mir ist diese Vielfalt von Fülle und Gefälle, von Formen und Kulturen, von Farben und Geschmäckern nicht nur sympathisch, sondern auch theologisch unverzichtbar. Das eine Wasser, die eine Taufe, der eine Geist. Aber all dies nie abstrakt, nie universal, sondern immer partikular und konkret. Und damit inkulturiert und wirksam geworden in Personen wie dem leidenschaftlichen Mönch Martin Luther aus Deutschland, dem politisch engagierten Pfarrer Huldrych Zwingli aus dem Schweizer Bergdorf, dem französisch-europäischen Juristen und Dissidenten Jean Calvin, aber auch im kämpferischen Thomas Münzer, den kompromisslosen Täufern, den radikalen Schwärmern und vielen anderen Frauen und Männern vor und nach der Reformationszeit aus allen Konfessionen.
So feiern wir im Reformationsjubiläum nicht Martin Luther und nicht die Protestanten, sondern die vielströmige, vielköpfige, bunte und lebendige Geschichte Gottes mit den Menschen in ihrer Vielfalt und ihrer Katholizität. Wir freuen uns darüber, dass immer noch Wasser sprudelt, und wir feiern die Gemeinsamkeiten der Ströme hüben und drüben im Wissen darum, dass es eine Quelle des lebendigen Wassers ist, von der wir leben, sei dies nun in Eisleben, in Zürich, in Dublin, Hermannstadt oder Turku.
Oder in Berlin und Wittenberg. Der Deutsche Evangelische Kirchentag 2017 hat den Vorteil, dass sich hier sehr augenfällig Vielfältiges begegnet, die Vielfalt der Menschen und Veranstaltungen, der Gottesdienste und Gebete, der Frömmigkeitsstile und der Lebenswelten. So lässt sich gut gemeinsam Reformationsjubiläum feiern.
Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2017.