Luther und der interreligiöse Dialog

Anknüpfungen und Bruchstellen reformatorischer Theologie

Die multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft ist schon in den ersten Jahrhunderten der prägende Kontext des jungen Christentums gewesen. Die Pluralität des Denkens und Glaubens, der Lebensführung und der Gesellschaftsordnungen ist damit keine moderne Erscheinung. Allerdings haben die Menschen im sogenannten „christlichen Abendland“ über 1.500 Jahre in einer Art religiösen Monokultur gelebt. Nur einige Juden waren als „die andere Religion“ als Minderheit erkennbar – mit entsprechenden Verwerfungen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft.
Die Situation hat sich grundlegend geändert. Im Europa des 21. Jahrhunderts stellt sich nicht mehr die Frage, ob Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägungen zusammenleben wollen. Vielmehr leben sie neben- und miteinander, sodass sich aus konkreten Lebenserfahrungen deutlich und dringend die Fragen nach der Gestaltung eines „gelebten Dialogs“ stellen. Das bedeutet aber zugleich auch die Erkenntnis, dass der christliche Glaube nicht allein ein Antwortgeber ist. Er muss mit dem Einspruch der anderen Religionen rechnen. Die plurale multireligiöse Welt macht deutlich: Das Christentum ist nicht aus sich heraus denknotwendig.

Eine Erinnerung an Martin Luther

 

Für mehr Gelassenheit hilft die Erinnerung an die Erkenntnis der Reformation: Glaube ist unverfügbar, das ganze Leben ein Geschenk. Eine trostreiche Erinnerung in Zeiten, in der viele Menschen rechtlos sind, an den Rand gedrängt und auf der Flucht sind und scheinbar nur diejenigen Recht haben, die es sich nehmen. Menschliches Leben ist stets mehr als das, was in den Genen beschlossen liegt. Der Mensch ist mehr als das Resultat seines Schicksals. Der Wert des Menschen bemisst sich nicht nach seiner Arbeitsleistung. Des Menschen Würde und Wertschätzung hängt nicht am seidenen Faden eines mehr oder weniger geglückten Lebens – was soll das auch sein? Es hängt an der verlässlichen Zuwendung und Treue Gottes zum Menschen.

 

Diejenige Bibelstelle, die für Martin Luther nach seinen eigenen späteren Worten „die Tür zum Paradies“ geworden ist, steht im Römerbrief des Apostels Paulus, der dort im 1. Kapitel schreibt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die aus dem Glauben kommt – wie geschrieben stehet: Der Gerechte wird aus Glauben leben“.

Toleranzpotenzial gegen faktische Intoleranz

 

Damit eröffnete die Reformation die Gewissens- und Glaubensfreiheit in besonderem Maße – und blieb doch hinter den eigenen wunderbaren Erkenntnissen zurück. Als sei man selbst erstaunt über solch einen großherzigen Gott, der in der Bibel zu entdecken war. Und das hatte fatale Folgen für die, die anders glaubten. Die Juden als unsere „Brüder“ – aber nur wenn sie sich bekehren. Ansonsten sind sie das verworfene Volk. Juden und in deren Gefolge auch „Türken, Papisten und Schwärmer“ wurden zur Negativfolie der zentralen reformatorischen Erkenntnis der Rechtfertigung des Sünders „allein aus Gnade“ („sola gratia“). „Wer von der Gnade ins Gesetz zurückfällt, der fällt in Götzendienst, weil es außerhalb Christi nur Götzendienst gibt, ob es nun Papst, Gesetze des Moses oder Türken genannt wird – es läuft auf ein Götzenbild und falsche Vorstellung von Gott hinaus“, so heißt es in WA 40/1,611: Auslegung zum Galaterbrief, Vorlesung 1535.

 

Martin Luther wollte, wie viele vor und nach ihm, die Christenheit stärken und war der Überzeugung, dass dies nur durch Abwertung der Anderen, die anders glauben, möglich sei. Seine Theologie und Praxis blieb so hinter seinen eigenen theologischen Erkenntnissen über die unverfügbare Kraft des Heiligen Geistes zurück, die er z. B. in der Erklärung zum dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses formulierte. Luther hatte den Gedanken der Toleranz in ausgesprochener Klarheit in seiner dritten Thesenreihe zum Römerbrief von 1536 formuliert. Er erkennt in „der unvergleichlichen Geduld und Weisheit Gottes“ („ad incomprehensibilem tolerantiam et sapientiam Dei“) die Grundlage für die Pluralität der Lebensäußerungen der Menschen. Gottes Toleranz ist in diesem Sinn Voraussetzung für die Toleranz der Menschen untereinander. Für ihn ist es die erhaltende und erlösende Liebe Gottes, die bereit ist, alles zu ertragen, zu

erdulden, zu erleiden um des geliebten Menschen willen.

 

Diese offene Haltung, begründet in Gottes Toleranz der radikalen Gnade und in der Gewissensfreiheit des Menschen, ist eine Herausforderung bis heute. In einer Zeit, in der ausgrenzende dualistische Weltbilder im Sinne „wir – und da die anderen“ Karriere machen, gilt für alle Religionen und Weltanschauungen, ihr geistig-spirituelles Friedenspotenzial abzurufen. Bis heute tun sich nicht nur Christen, sondern Gläubige aller Religionsgemeinschaften bis hin zu Atheisten und Humanisten schwer, dem Anderen respektvoll zu begegnen. Alle scheinen die Tendenz zu haben, die eigenen Anhänger zu bevorzugen und wenig Platz für die Andersgläubigen zu lassen. In religiöser Perspektive gilt aber: Wenn Gott immer noch größer ist, als ich zu denken und zu glauben vermag, ist es gottlos, sich selbst im „Besitz“ der Wahrheit zu dünken.
Weil Luther seine Grundeinsichten der „Toleranz Gottes“ nicht stringent weiterführte, hielt er sich selbst nicht an seine eigene theologische Prämisse, dass jegliche Ketzerei nicht mit Gewalt auszutreiben sei, sondern es Gottes Wort allein tue (Von weltlicher Obrigkeit, 1523). Hätte er sich selbst – und mit ihm die Kirche – an die von ihm ausdrücklich benannte „tolerantia Dei“ gehalten, hätte er nicht zu Gewalt und Verfolgung Andersgläubiger aufgerufen. Das Verhältnis der Reformationszeit und der Reformatoren im Besonderen zum Toleranzgedanken lässt sich bestimmen zwischen dem Potential zur Toleranz und der faktischen Intoleranz.

 

So will ich in gewissem Sinn „Luther gegen Luther“ lesen und seine Erkenntnisse wieder herausstellen: Die Heilige Schrift als Botschaft der Liebe Gottes zu allen Menschen wahrnehmen. Religion nicht mit Moral und Besserwisserei verwechseln. Religiöse Bildung gewinnen, denn nur wer religiös gebildet ist, kann nicht verführt werden. Die Freiheit des Gewissens gegen alle religiöse Bevormundung betonen. Glaube und Selbstkritik als Geschwister anerkennen, um fundamentalistischen Tendenzen zu begegnen. Glauben zu leben und zu feiern, weil ich mich bedingungslos angenommen weiß. Vieldeutigkeit zulassen. Humorvoll bleiben, Mitgefühl entwickeln. Und Luthers aus Römer 1,16 gewonnenes trostreiches Fundament stark machen: Nicht irgendein „absolutes Wissen“, sondern die Gewissheit ist Kennzeichen eines beziehungsorientierten Glaubens. Das macht den Glauben durchaus schwieriger, aber es macht ihn auch kostbarer.

Andreas Goetze
Andreas Goetze ist Landespfarrer für den interreligiösen Dialog der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).
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