Luther gehört uns nicht

Luther gehört uns nicht. Er gehört nicht den evangelischen Kirchen. Er gehört nicht den Kirchenbünden lutherischer Prägung. Wo wird das augenfälliger als in der Lutherstadt Wittenberg! Die meisten Wittenberger sind konfessionslos. Ein Pilgerbummel durch die pittoreske Innenstadt bietet jedoch Lutherbier, Lutherwein, halbbitteren Lutherlikör, Lutherkugeln, Luther auf Postkarten, T-Shirts, auf Messern und Gabeln, auf Aschenbechern, Fingerhüten und Postkarten. Luther ist gerade dort allgegenwärtig, wo kaum einer mehr was glaubt. Luther gehört wirklich nicht uns.

 

Vom baufälligen Postament vor dem Wittenberger Rathaus ist der Reformator übrigens soeben verschwunden. Weg vom Markt ist er allerdings nicht. Die Kurientheologen zu Rom wussten schon, warum sie zu dessen Lebzeiten Luther mit einer Hydra verglichen. Lasse man seinen Kopf mit lehramtlicher Gewalt verschwinden, wachse er nur um ein vielfaches vermehrt wieder hervor. Zum Vervielfältiger hat sich jetzt Ottmar Hörl aufgeschwungen. Der ist Künstler, nicht Kirchenmann. Von August bis September 2010 bevölkern in einer Installation 800 einmetergroße Kunststoffluther in grün, rot, blau und schwarz den Wittenberger Markt. Sie werden als Lutherbotschafter in alle Welt verkauft. Wo sie wohl zu stehen kommen? Mag sein in der ein oder anderen Kirche, die sich mutig wähnt, eher in öffentlichen Gebäuden, am Ende sogar in Privathäusern. Fehlt noch der von innen beleuchtete Lumiluther. Das wäre doch was: Luther als Licht der Welt zwar nicht, aber des Wohnzimmers.

„Luther gehört (…) nicht den evangelischen Kirchen.“

Nun hat Ottmar Hörl hervorgehoben, Luther habe die Trennung von Kirche und Staat initiiert. Selbst wenn das stimmen sollte. Ist das das Entscheidende? Ich höre bei Luther 2017 immer nur Kirche und Staat: Kirchenmusik – staatliche Orchester, kirchliche Freiheit – politische Freiheit, kirchliche Macht – staatliche Gewalt, religiöse Bildung – Schulbildung … Das verstehe ich nicht. Luthers Geist mag zwar„zweier Zeiten Schlachtgebiet“ (Conrad Ferdinand Meyer) gewesen sein. Zweier Reiche Schlachtgebiet war er aber nie. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ ist eine Erfindung der theologischen Lutherinterpretation. Luther selbst kennt sie nicht. Er ist nicht für Reiche. Denn ihn hat das gesellschaftliche Leben in seiner ganzen Vielfalt beschäftigt.

 

Deshalb frage ich mich: Wieso eigentlich immer nur die monotone Zweifaltigkeit von Kirche und Staat? Was ist mit den anderen gesellschaftlichen Kräften im Land? Dritte Kräfte sind doch wohl hoffentlich nicht nur als Geldspender willkommen. Keine Frage: Sponsoren und Stifter muss es geben – gerade für ein so besonderes Ereignis wie 2017. Ich habe großen Respekt, wenn Menschen bereit sind, in ein solches Datum Vermögen zu investieren. Sie müssen aber sicher sein können, dass ihre Spenden nicht zu einem Ablass für einen petersdomartigen Großevent verkommen.

 

Das Reformationsjahr 2017 verdient anders zu werden. Bitte nur ja keine Aneinanderreihung von nationalpolitischen Gedenkstunden und kirchenpolitischen Ruckereignissen. Bitte nur ja keine staatstragenden Freiheitsansagen! Bitte nur ja keine verklausulierten theologischen Richtigkeiten, wie sie schon immer schrecklich langweilig waren!

„Luther bietet mehr.“

Luther bietet mehr. Luther hat die Künstler seiner Zeit fasziniert. Cranach hat ihn und seine Ideen immer wieder ins Bild gebannt. Dürer schickt ihm unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen einen Dankesbrief und legt gleich noch ein Geschenk dazu. Luther sang und spielte Instrumente. Mitsingen, laut und aus Überzeugung, lag ihm am Herzen. Er ist als Sänger durch die Straßen gezogen und hat sich damit ein Zubrot verdient. Luther dichtete, war ein raffinierter Rhetoriker und Stilist. Luther mochte Latein. Ins Kloster zog er mit Vergil und Plautus unterm Arm. Die waren auf alles, nur nicht auf Frömmigkeit und Staatstheorie abonniert. Luther wollte weltliche Literatur verinnerlichen, um nicht in eine lebensgestaltende Einsilbigkeit zu geraten.

 

Aber nicht nur das: An einer Metamorphose von Ovid hatte er ebenso viel Spaß wie an einer saftigen Schweinekeule. Wie ein kleiner Junge freute er sich über die Gastfreundschaft bayrischer Gastwirte, die damals schon so römisch-katholisch waren, wie sie es heute noch sind.

 

Luther war ein begnadeter Übersetzer und schrieb über die Kunst des Dolmetschens spritzige Texte. Ohne die Lust am ununterbrochenen Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Lebenswelten geht da gar nichts, schärfte er ein.

 

In kurzen Schriften dachte er über die Bedeutung von Kulturphänomenen nach, von der Windel bis zur Schultafel. Luther erkannte, was Bildung für das Leben heißt. Ihm war klar, dass schwärmerische Verblödung das Leben auf ungute Weise frömmer macht. Wer das Evangelium trivialisiere, bringe nicht nur andere um ihren Verstand. Er gefährde deren Leben. Denn das Leben ist niemals einfach und wird es auch nicht werden. Das Leben ist auch mehr als nur religiös. Kein Wunder, dass es Luther in Gemeindevisitationen auch um die Finanzierung von Schulen, den Bau von Brücken und Wegen ging. Luther lag an der Vernunft. Er lobte sie als „Erfinderin und Lenkerin aller Wissenschaften, der Medizin und der Jurisprudenz sowie alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Herrlichkeit vom Menschen besessen wird“. Nur dürfe diese Erfinderin und Lenkerin nicht herrenlos im menschlichen Verstand herumflottieren. Luther 2017 kann hier die gesellschaftspolitische Frage aufwerfen, wem die faszinierenden Vernunftleistungen eigentlich ihre Treue erklären wollen und sollten. Für Luther waren es seine Glaubensüberzeugungen. Das gibt wissenschafts- und kulturpolitisch zu denken.

 

Luther gehört uns übrigens auch nicht in seinen Schwächen. Dass er von der Schweiz behauptete, sie sei „nicht mehr denn Berg und Tal“, müssen die Kulturträger unserer südlichen Nachbarn provokativ korrigieren dürfen. Man darf ihm auch nicht durchgehen lassen, dass er während seiner Romreise nur von der schlechten Akustik des Ulmer Münsters, von Findelhäusern und Spitälern zu Florenz und dergleichen mehr zu berichten wusste. Ich finde das ignorant, kein Wort über Chorgestühle, Michelangeloplastiken, Pintoricchiofresken und Mamorinkrustationen zu verlieren. Ein letztes noch: 2017 darf gerade nicht zu einer Vervielfältigung von Luther selbst führen. Das hat er sich persönlich aus gutem Grund verbeten: „Man wollt meines Namens geschweigen und sich nit lutherisch sondern Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nit mein […]. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollt mit meinem heillosen Namen nennen? […] Ich bin und will keines Meister sein.“

 

Gerade den von Ottmar Hörl erwähnten Buchdruck nutzte Luther nicht zur Selbstvervielfältigung, sondern der Sache, der er dienen wollte. Auch die gehört uns sicher nicht allein.

 

Bis zum Reformationsjubiläum sind es noch sieben Jahre – Zeit genug, um die Kräfte jenseits von Kirche und Staat zu mobilisieren. Ein paar dieser Kräfte sind ja schon unterwegs. Aber ich freue mich auf mehr, freue mich auf heitere Irritationen, auf Freches, auf runde Luthertische jenseits von Staatskanzleien und Kirchenämtern.

 

Der Text ist zuerst  Politk & Kultur 05/2010 erschienen. 

 

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Stephan Schaede
Stephan Schaede ist Direktor der Evangelischen Akademie Loccum.
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