Die Gegenwartsbedeutung der Herrenhuter Losungen

Zum 250. Todestag Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs

Das Jahr 2010 ist evangelischerseits durch zwei bedeutsame Ereignisse geprägt: Zum einen durch den gerade zurückliegenden 2. Ökumenischen Kirchentag in München, der auf beeindruckende Weise wieder weit über 100 000 Christinnen und Christen aller Konfessionen zum gemeinsamen Feiern, Diskutieren und Beten versammelt hat. Zum anderen durch die Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des 450. Todestages von Philipp Melanchthon, dem großen Theologen, Wegbegleiter Luthers und „Praeceptor Germaniae“. Neben diesen beiden Großereignissen droht ein weiteres wichtiges Jubiläum fast ein wenig in Vergessenheit zu geraten, nämlich der 250. Todestag Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs (9. Mai). Der Name Zinzendorf ist eng verbunden mit der Geschichte des Pietismus. Während viele andere Vertreter des klassischen Pietismus eine ganz verinnerlichte Form der Frömmigkeit pflegten und sich in abgesonderten Zirkeln aus der für sie als gänzlich verdorben befundenen Welt zurückzogen, stand für ihn und seine Anhänger das sogenannte aktive „Streitertum“ für das Evangelium im Mittelpunkt: Aus der tiefen persönlichen Verbundenheit mit dem Heiland Jesus Christus entsprang für ihn ganz notwendigerweise der Ruf in das Hinausgehen in die Welt zum missionarischen Zeugnisdienst. Zeit seines Lebens war er überdies frühzeitig vom Gedanken der die Konfessionen verbindenden Ökumene motiviert und getragen. Glühende Herzensfrömmigkeit und verantwortliches, christliches Zeugnis für diese Welt waren ihm zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Zinzendorf, der Laientheologe aus angesehenem Adelsgeschlecht, war ein kreativer und eigenständiger Geist und kirchlicher Grenzgänger. Letzteres brachte ihn beispielsweise in so manche Konflikte mit Vertretern der Amtskirche seiner Zeit. Er verband die klare Orientierung an Luther und der Bibel durchaus mit der Offenheit für spiritualistische, ekstatische und mystisch geprägte Frömmigkeitsformen. Vieles davon war sicherlich nicht nur für seine damaligen Zeitgenossen, sondern ist auch für uns immer noch befremdlich: Hierzu gehören beispielsweise seine „Blut- und Wundenfrömmigkeit“ mit ihren drastischen Ausmalungen der Passion Christi, sein eigentümliches Verständnis der christlichen Ehe als asketische „Streiterehe“ oder die oft überspannt erscheinenden Bilder und Sprachmetaphern der frühen Brüdergemeine.

 

Doch die Wirkungsgeschichte spricht eindeutig für Zinzendorf. Sein Werk lebt bis heute fort, und zwar in Form der Herrenhuter Brüdergemeine und der mittlerweile weltbekannten Herrenhuter Losungen. Die Losungen gehören für unzählige Christinen und Christen auf der ganzen Welt zur täglichen, geistlichen Besinnung und Andacht dazu. Auch auf meinem Schreibtisch liegt das Lösungsbüchlein stets griffbereit. Doch ich empfange die segensvollen Worte der Bibel, dank modernster Technik, mittlerweile auch regelmäßig auf meinem Handy.

 

Was für eine atemberaubende Erfolgsgeschichte! Die Losungstexte, die es heutzutage in 46 Sprachen und einer weltweiten Auflage von 1,75 Millionen Exemplaren gibt, sind von einer gleichermaßen einfachen wie genialen Grundidee getragen: Jeder Tag unseres Lebens soll bewusst unter ein bestimmtes Wort Gottes gestellt werden. Damit kommt ein zentrales theologisches Anliegen Zinzendorfs zum Ausdruck, nämlich die Nähe und Unmittelbarkeit Christi gerade auch im Alltag und Diesseits unserer Tage und in der Mitte unseres Lebens zu erfahren und zu bekennen. Dietrich Bonhoeffer wird einmal, knapp zweihundert Jahre später und wenige Monate vor seinem Tod, sagen: „Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. (…) Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.“ Die Tiefe eines jeden einzigartigen Tages im Lichte der Verheißungen Gottes sehen zu können, dazu wollen die Losungen unsere Augen öffnen.

„Jeder Tag unseres Lebens soll bewusst unter ein bestimmtes Wort Gottes gestellt werden.“

Ziel bei allen Bemühungen Zinzendorfs war stets die Sorge um die wahre Gotteskindschaft im Glauben, der im Wort Gottes der Heiligen Schrift gründet und in die konsequente Nachfolge ruft. Peter Zimmeling hat es in seinem neuen Buch über Zinzendorf wie folgt ausgedrückt: „Die Bibel ist für ihn nicht primär Quelle von dogmatischen Aussagen. Vielmehr steht bei seinem Bibelgebrauch die existentielle Erfahrung im Zentrum, dass die Bibel Anrede Jesu Christi ist. (…) Dadurch, dass der auferstandene Jesus Christus noch heute durch die Schrift redet, gerät sie in eine unerhörte, beinahe bedrohliche Gleichzeitigkeit zu ihren Leserinnen und Lesern (…). Im Wort der Schrift ist uns Jesus Christus genauso nahe, wie es der irdische Jesus seinen Jüngern war .“ (Ders., Ein Leben für die Kirche – Zinzendorf als Praktischer Theologe, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, S. 203) Diese Erkenntnis ist, wie ich finde, gerade in einer Zeit wie der unserigen, in der auch im Protestantismus die Vertrautheit mit dem Wortlaut der Bibel mehr und mehr zu schwinden droht, höchst bedeutsam und aktuell.

 

Bis heute schätzen wir die wunderschönen Lieder Zinzendorfs in unserem Evangelischen Gesangbuch wie z.B. „Jesu, geh voran“ (EG 391) oder „Herz und Herz vereint zusammen“ (EG 251). Und wir entdecken gerade wieder aufs Neue, in einer Gegenwart, die von so vielen Verunsicherungen und so zahlreichen Sehnsüchten geprägt ist, wie wichtig ein lebendiger christlicher Glaube ist, der den Menschen nicht nur einfach intellektuell nachvollziehbare Antworten auf die Fragen und Herausforderungen der Zeit zu geben vermag, sondern auch auf emotionale Weise Orientierung zu schenken und hoffnungsvolle Lebensbezüge zu stiften imstande ist. Der christliche Glaube ist immer dann besonders attraktiv und anziehend, wenn er das Wort der Schrift lebendig und anschaulich werden lässt und sich mitten in die Verantwortlichkeiten dieser Welt zu stellen bereit ist. Oder mit den eigenen Worten Zinzendorfs: „Wir wollen uns gerne wagen, in unseren Tagen der Ruhe abzusagen, die´s Tun vergisst. Wir wolln nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst.“ (EG 254,1)

 

Es dürfte kein Zufall sein, dass kein anderer als der bereits erwähnte Dietrich Bonhoeffer viele dieser theologischen Impulse Zinzendorfs in seiner Tegeler Haft auf vielfältige und intensive Weise reflektiert und geistlich aufgegriffen hat. An einer Stelle in „Widerstand und Ergebung“ bemerkt er prophetisch: „Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert.“ Die Herrenhuter Losungen begleiteten und trugen Dietrich Bonhoeffer in den schwersten Stunden am Ende seines Lebens. Die Losungen offenbarten in der Zeit der Bekennenden Kirche und in der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte auch ihre politische Bedeutsamkeit, und vielleicht kann man sogar sagen: ihre regelrechte politische Sprengkraft. Bonhoeffers zahlreiche Auslegungen der Losungstexte in seinen letzten Briefen legen dafür ein bleibend gültiges Zeugnis ab. Am letzten Tag seines Lebens legte er seinen Mithäftlingen noch die Tageslosung aus. Es handelt sich um einen Text aus dem ersten Petrusbrief, aus demselben Brief, aus dem auch das Motto des diesjährigen 2. Ökumenischen Kirchentages entnommen war. Der Text aus 1. Petr 1,3 lautete: „Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung…“. Kann es für uns ein größeres Zeugnis für die bleibende Bedeutsamkeit der Herrenhuter Losungen geben?

Hermann Gröhe
Hermann Gröhe ist Generalsekretär der Christlich-Demokratischen-Union Deutschlands und war von 1997 bis 2009 Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
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