Aktivierender Begleiter

Hans Jessen im Gespräch mit Thomas Krüger

Thomas Krüger ist seit 18 Jahren Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) und kennt entsprechend das Feld der politischen Bildung wie kein anderer. Hans Jessen spricht mit ihm über Vermittlung, Scheitern und Gelingen politischer Bildung.

 

Hans Jessen: Herr Krüger, Sie sind seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Was hat sich in diesen fast 20 Jahren getan? Sind die Zielsetzungen und die Umsetzungsformen der politischen Bildung heute noch die gleichen wie damals?
Thomas Krüger: Die Zielsetzungen der politischen Bildungsarbeit haben sich im Kern nicht verändert. Es geht um Stärkung der Demokratie, um Motivation, an politischer Willensbildung mitzuwirken. Der entscheidende Wandel ist auf zweierlei Weise zu beschreiben: Zum einen finden gesellschaftspolitische Veränderungen auch in Veränderungen der Methoden, Themen und Ansprachen von politischer Bildung ihren Ausdruck.

Z. B.: Eine Erinnerungspolitik, die sich nicht als Erinnerungspolitik in einer Einwanderungsgesellschaft versteht, adressiert wesentliche Fragen der politischen Bildung nur an einen Teil der Gesellschaft. Die Heterogenisierung der Gesellschaft fordert aber Perspektivwechsel und Multiperspektivität z. B. in solchen Fragen wie der Vermittlung des Holocausts, der Geschichte des Nationalsozialismus.

Der zweite große Wandel in der Arbeit der Bundeszentrale ist der Paradigmenwechsel von der Gutenberg-Galaxis ins digitale Zeitalter. Als ich 2000 ins Amt gekommen bin, war die bpb noch mit beiden Beinen tief in der Gutenberg-Galaxis verankert: in tonnenweise gedrucktem Text. Das ist nichts Schlimmes, das ist auch heute noch relevant. Aber die Nutzungsgewohnheiten haben sich verändert, und auch die Distributionswege für die Inhaltsvermittlung haben sich dramatisch verändert. Heute ist der personell größte Bereich der Onlinebereich und nicht mehr der Printbereich.

 

Sie haben als Aufgabenbeschreibung skizziert: durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für politische Sachverhalte fördern, demokratisches Bewusstsein festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit stärken. In der Abstraktion liest sich das einfach. Zunehmende politische Polarisierung, populistische Wahlerfolge, gesellschaftliche Auseinanderdriftung könnten aber auch zu dem Schluss führen, politische Bildung sei gescheitert?
Politische Bildung befindet sich in einem dauerhaften Diskurs und ist permanent umstritten. Sonst wäre sie nicht politische Bildung. Ein Kernbestandteil politischer Bildung ist das Kontroversitätsgebot. Umstrittene Sachverhalte müssen kontrovers dargestellt werden. Wäre politische Bildung im Kern nicht umstritten, dann hätte sie ihr Ziel verfehlt. So ist Scheitern eigentlich immer ein immanenter Bestandteil des Selbstverständnisses politischer Bildung. Ein Argument, das den einen überzeugt, wird den nächsten überhaupt nicht überzeugen, im Gegenteil. Es gibt nicht den Archetypen des politisch gebildeten Bürgers oder der Bürgerin, sondern die Wahrheit ist der Plural. Das Problem besteht eher darin, dass im Zuge des aufkommenden Populismus die Pluralität von Wahrheit wieder infrage gestellt wird, d. h., nur noch die eine Position für wahr gehalten wird. Da müssen wir mit den verschiedenen Akteuren in der Zivilgesellschaft und im politischen Raum Allianzen schließen, die deutlich machen, dass es ein Wert ist, unterschiedlicher Meinung sein zu dürfen. Was die einen Scheitern politischer Bildung nennen, ist für andere Ausdruck ihres Gelingens.

 

Das Gebot zur Kontroverse ist ein zentrales Grundprinzip des sogenannten „Beutelsbacher Konsenses“ von 1976. Ist diese Festschreibung heute eigentlich noch adäquat? Oder muss sich da was verändern?
Der Beutelsbacher Konsens ist nach wie vor die Grundlage der politischen Bildung. Allerdings müssen sich gesellschaftliche Veränderungen auch in einer weitergehenden Interpretation wiederfinden. Beim Kontroversitätsgebot stellt sich heute die Frage, ob bestimmte populistische oder auch extreme Positionen durch das Kontroversitätsgebot im Angebot der politischen Bildung widergespiegelt sein müssen? Da muss man einfach deutlich machen, dass es auch bei der Kontroversität rote Linien gibt. Und für uns ist ganz klar: Das Grundgesetz setzt den Rahmen. Deswegen sind homophobe Positionen, rassistische Positionen nicht durch das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses gedeckt.

Ein weiterer Aspekt, der didaktisch diskutiert wird, ist die Frage, welche Rolle eigentlich Emotionen in Bildungsprozessen spielen. Emotionslose Bildung hatte das große Manko, dass die Überzeugungskraft nur mit Worten, nur mit rationalen Argumenten allein, nicht zur angestrebten Stärkung politischer Mitarbeit führt. Wir müssen akzeptieren, dass in einer Zeit, in der vor allem audiovisuell kommuniziert und rezipiert wird, Emotionen eine immer stärkere Rolle spielen. Man muss sie kritisch reflektieren, kann sie dann aber gezielt einsetzen. Emotionen in der politischen Bildung sind eben nicht des Teufels, sondern auch hier muss der Beutelsbacher Konsens insgesamt weitergedacht werden. Beutelsbach 2.0 könnte man das nennen.

 

Sie selbst sind seit Kurzem Mitglied des Rates für kulturelle Bildung, der von verschiedenen Stiftungen getragen wird. Sollen politische Bildung, kulturelle Bildung und vielleicht auch historische Bildung nicht nur enger aneinanderrücken, sondern eine Teilsynthese eingehen?
Ja, es gibt Interferenzen in der Arbeit, was die Zielgruppen, die Methoden und die Formate betrifft. Es gibt auch gemeinsame Interessen. Es war immer schon ein Ziel der kulturellen Bildung, Persönlichkeitsbildung ins Visier zu nehmen, soziokulturelle Implikationen mit zu adressieren, und sich nicht nur ästhetische Vermittlung auf die Fahnen zu schreiben. Die politische Bildung hat auch in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewonnen und wird durch die Kooperationen mit neuen Akteuren auch selbst permanent modernisiert, aktiviert und in anderen Kontexten relevant.

Sie sind nicht die einzigen Akteure der politischen Bildung in Deutschland. Wie wird Ihre Arbeit beeinflusst durch Projekte und Initiativen z. B. von Ministerien?
Man muss aufpassen, dass die politische Bildung nicht sozusagen eine „Versicherheitlichung“ durchmacht. Z. B. das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesjugendministeriums ist ein dezidiert auf Extremismusprävention abgestelltes Programm. Die Ressourcen dort, 100 Millionen Euro, haben den Gesamtmarkt der politischen Bildung in Deutschland stark beeinflusst und auf Sicherheitsaspekte abgezielt. Aber politische Bildung kann nicht nur auf einen Aspekt wie die Sicherheit fokussiert werden, sondern muss als plurale Veranstaltung die gesamte Gesellschaft in ihrem Facettenreichtum in den Blick nehmen.

Politische Bildung ist von ihrem Naturell her eine Art begleitendes Instrument für gesellschaftlichen Wandel. Deshalb wird sie immer in der Situation sein, nie ans Ziel zu gelangen, sondern sie wird von jeder neuen gesellschaftlichen Formation neu herausgefordert. Ein praktisches Beispiel: Politische Bildung funktioniert besonders gut bei den Leuten, die schon politisch gebildet sind. Das lockt die politische Bildung natürlich in Formate, in denen man die Erfolge spürt, sich positive Feedbacks einholt. Aber, und diese Frage müssen wir stellen, ist politische Bildung nicht auch und gerade für Menschen, die neu in unser Land kommen, für diejenigen, die benachteiligt sind, die keine Bildungserfolge in der Schule haben, ein Instrument, was sie sehr gut gebrauchen können, um ihre politischen Interessen zu markieren und sich zu positionieren? Natürlich. Aber das heißt dann wieder, man muss komplett neue Wege gehen, weil ein Mensch, der vielleicht nicht so bildungserfolgreich ist, keine dicken Bücher liest, sondern eher audiovisuell unterwegs ist, auf den traditionellen Wegen von uns kaum erreicht wird.

Den Befund werden viele teilen können. Welchen strategischen Ansatz leiten Sie daraus ab?

Wir als staatliche Behörde haben es schwer, in bestimmten Zielgruppen glaubwürdig rüberzukommen. Deshalb schließen wir Allianzen mit Influencern, man kann auch sagen „Brückenmenschen“, die in den sozialen Medien aktiv sind. Gemeinsam mit ihnen erreichen wir soziokulturelle Milieus, an die wir sonst nicht rankommen. Z. B. bei dem Thema „Auseinandersetzung mit Salafismus“ haben wir mit vielen Experten lange überlegt, wie man das zielgruppengerecht angehen könnte. Schlussendlich haben wir mit einer Youtuberin und Influencerin zusammengearbeitet, die eigentlich eine Beauty-Bloggerin ist, also Schminke und Ähnliches auf ihrem Kanal bespricht. Mit ihr haben wir das Format „travellingIslam“ entwickelt und die „Begriffswelten“ des Islams in kurzen animierten Videos präsentiert: Was ist die Umma? Was ist die Scharia? Das sind stark frequentierte Videos geworden, die nicht zuletzt aufgrund der türkischen Wurzeln der Youtuberin auch verstärkt junge Muslimas ansprechen. Die erzählen das wieder weiter, erzählen es ihren Freunden. Dann wird kontrovers diskutiert. Natürlich auch darüber, dass die Bundeszentrale dahintersteckt. Aber die Youtuberin selbst steht hinter diesem Projekt. Die Zusammenarbeit mit Influencern in den sozialen Medien führt also zu Diskussionen und Auseinandersetzungen in Bereichen der Gesellschaft, die bisher nicht an politischer Bildung partizipiert haben. Das Projekt „Begriffswelten Islam“ wurde bis heute rund 800.000 Mal angesehen.

Ein anderes Beispiel ist der allseits bekannte Wahl-O-Mat. 15,7 Millionen Nutzer haben den Wahl-O-Mat bei der letzten Bundestagswahl ausprobiert. Das ist ein Viertel aller wahlberechtigten Bürger, von denen Millionen anschließend weitere Informationen bei uns abgefragt haben. Wenn man so will, ist der Wahl-O-Mat das reichweitenstärkste Instrument politischer Bildung in Deutschland.

 

Wird es nach Ihrer Auffassung in 20 Jahren noch eine Form von institutionalisierter politischer Bildung mit Bundeszentrale und Landeszentralen geben, so wie wir sie heute haben? Oder besichtigen wir diese Organisationsformen entweder im Museum oder auf dem Müllhaufen der deutschen Geschichte?
Ich glaube, als aktivierender Begleiter demokratischer Entwicklung gehört politische Bildung zum gesellschaftlichen Code dieses Landes. Sie ist auch Reflexion darüber, wie wir in unserem Land zusammenleben, wie wir es politisch gestalten wollen. Das tut diesem Land sehr gut.

Der Schlüssel für die Zukunft: Als Institution dürfen wir nicht einfach nur Produzenten sein. Wir müssen diejenigen, die an politischer Bildung partizipieren wollen, aktiv mitbestimmen lassen, welche Themen verhandelt werden, wie die Formate aussehen, wie die Inhalte letztendlich ausgestaltet werden. Da müssen wir als Zentrale auch ein Stück Kontrollverlust akzeptieren.

Auch in der Zukunft wird keine Gesellschaft von Gleichen existieren, sondern wir sind eine Gesellschaft von Ungleichen. In dieser Gesellschaft von Ungleichen muss es verschiedene Angebote, verschiedene Wahrheiten, verschiedene Interpretationen geben. Eins dürfen wir allerdings nicht vergessen: Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich drastisch. Der Kapitalismus nimmt autoritärere Formen an. Das erfordert auch ein offensiveres Ausgestalten der Instrumente politischer Bildung. Will sagen: Es geht nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um Aktivierung. Bildung hatte immer, vielleicht als einzige der Geisteswissenschaften, den Anspruch, Gesellschaft auch zu verändern.

 

Dankeschön.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.

Thomas Krüger und Hans Jessen
Thomas Krüger ist Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Hans Jessen ist freier Journalist und Publizist. Er war langjähriger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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