Der Begriff der Bildung ist ein attraktiver Begriff. Man verwendet ihn in den verschiedenen Wissenschaften, in der Philosophie, in der Politik und in der öffentlichen Kommunikation. Weil er ein attraktiver Begriff ist, kommunizieren Menschen, Institutionen, Parteien und Regierungen ihre jeweiligen Anliegen gerne unter diesem Label. Allerdings sind diese Anliegen sehr verschieden. Die einen denken bei Bildung an Qualifikation und an den Arbeitsmarkt, andere denken an die Oper und an Johann Wolfgang von Goethe, und wieder andere denken an politische Debatten.
Oft hilft ein Blick in die Geschichte eines Begriffs, um eine solche Vielfalt von Verständnisweisen zu sortieren und ihre Berechtigung zu überprüfen. Der Bildungsbegriff gehört neben Aufklärung und Kultur zu den „Neuankömmlingen in der deutschen Sprache“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so seinerzeit der Berliner Philosoph Moses Mendelssohn. Er löste den in der Aufklärung verwendeten Begriff der Erziehung ab, was mit einem Paradigmenwechsel verbunden war: Bei dem Erziehungsbegriff geht es darum, dass ein wissender Erwachsener einem unwissenden „Zögling“ in einer pädagogischen Einbahnstraße Wissen vermittelt. Bildung dagegen ist – etwa im Verständnis von Wilhelm von Humboldt – wesentlich Selbstbildung.
Solche Debatten über Bildung und Erziehung haben eine lange Geschichte. Insbesondere ist an den prominenten Slogan „Bildung für alle“ des tschechischen Philosophen Johan Comenius zu erinnern, den er Mitte des 17. Jahrhunderts seiner „Großen Didaktik“ voranstellte. Zur gleichen Zeit formulierte der englische Philosoph Francis Bacon das programmatische Motto: „Wissen ist Macht“, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der Sozialdemokratie aufgegriffen worden ist.
Allerdings verwendete man unter den Gelehrten dieser Zeit die lateinische Sprache und sprach von „eruditio“. In diesem Begriff steckt das Wort „roh“, sodass man mit Erziehung „Entrohung“ meinte. Man sah nämlich als Ursache für Krieg und Gewalt – gerade nach dem Dreißigjährigen Krieg – das Rohe, Tierische und Triebhafte im Menschen, weswegen dies auszutreiben war.
Was nutzt an dieser Stelle diese historische Bildung? Man kann erkennen, dass „Bildung“ ein emanzipatorischer Begriff ist. Es geht um Frieden, es geht um die demokratische Perspektive einer „Bildung für alle“, es geht aber auch um Macht, so wie Francis Bacon es sagte. Dies gilt auch für Wilhelm von Humboldt. Er wollte einen liberalen Staat, der wiederum aktive und kluge Bürger benötigte. Seine Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff findet sich daher in der frühen staatstheoretischen Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Dies bedeutet, dass das Attribut „politisch“ eigentlich unnötig ist: Der Bildungsbegriff ist von seiner Genese her immer schon ein emanzipatorischer und politischer Begriff. Insbesondere wendet er sich gegen eine bloße Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft.
Auch das Attribut „kulturell“ wäre vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte nicht nötig. Denn Wilhelm von Humboldts Freund Friedrich Schiller formulierte in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ die politische Vision, dass der Mensch, der in einer von der Außenwelt abgeschotteten Oase Freude an der Freiheit einer künstlerischen Gestaltung entwickelt, diese Lust an der Freiheit auch auf die Gestaltung der Gesellschaft überträgt. Auch eine so verstandene kulturelle Bildung hat eine politische Dimension.
Diese Vision ist bis heute aktuell und hat einen großen Einfluss auf die Gestaltung der Kulturpolitik gehabt, wie man etwa bei Hermann Glasers „Bürgerrecht Kultur“ nachlesen kann. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) vor einigen Jahren den Slogan formuliert: „Kulturelle Bildung ist soziale Bildung und zum Teil auch politische Bildung“. Zurzeit scheint auch der Kunstbetrieb diese politische Dimension vermehrt neu zu entdecken.
Trotzdem gibt es Bemühungen, kulturelle von politischer Bildung strenger abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung gelingt umso leichter, je enger man beide Begriffe fasst. Wenn man politische Bildung sehr stark auf die Tätigkeit des Staates konzentriert, was einer Tradition in Deutschland entspricht, und wenn man andererseits kulturelle Bildung auf einen eher apolitischen Umgang mit den Künsten beschränkt, dann ist eine Unterscheidung leicht. Wenn man aber zu dem Politischen auch die Diskussionen und Debatten, die außerstaatlichen Interventionsformen von Interessensgemeinschaften und Verbänden oder die öffentlichen Politikdebatten zählt und daran denkt, dass man für all diese Partizipationsprozesse eine geeignet gebildete Persönlichkeit braucht, dann wird diese Abgrenzung schwieriger. Es entstehen nämlich genau die Persönlichkeitsdispositionen in einer kulturpädagogischen Praxis, die man in der Politik benötigt.
Auch wenn die Abgrenzung in diesem Falle schwerer fällt, bedeutet das nicht, dass politische und kulturelle Bildung identisch sind. So ist es etwa keine Aufgabe der kulturellen Bildung, das notwendige politische Fachwissen zu vermitteln, das man braucht, um erfolgreich intervenieren zu können. Ebenso ist es legitim im Bereich der politischen Bildung, kulturpädagogische Methoden für die eigenen Zwecke zu funktionalisieren, wohingegen man in der kulturellen Bildungsarbeit den Eigensinn einer ästhetischen Praxis – auch mit seiner spezifischen Bildungswirksamkeit – in den Vordergrund stellt. Zudem gibt es in beiden Arbeitsfeldern eigene Trägerstrukturen mit eigenen Traditionen und eigenen weltanschaulichen Orientierungen. Es gibt eigenständige Professionalitäten und entsprechende Ausbildungsgänge und nicht zuletzt gibt es unterschiedliche Haushaltstitel und Programme sowie verschiedene rechtliche Grundlagen.
Neben der politischen Dimension in der unmittelbaren Praxis gibt es in beiden Bereichen Organisationen, deren primäre Aufgabe in der Mitwirkung bei der Gestaltung geeigneter politischer Rahmenbedingungen besteht. In diesem Feld müssen die jeweiligen Fachorganisationen zusammenarbeiten, weil sie dieselben Ziele verfolgen: Es geht um ein Zurückdrängen einer grassierenden neoliberalen Ausrichtung in Politik und Verwaltung, die der kulturellen und der politischen Bildung nicht zuträglich ist.
Aus diesem Grund gibt es eine Initiative zu einer „Kritischen Kulturpädagogik“, eine Sammelbewegung von Wissenschaftlern und Praktikern aus verschiedenen pädagogischen Feldern, die daran erinnert, dass sich der oben beschriebene emanzipatorische Impetus des Bildungsbegriffs keineswegs überlebt hat, sondern dass man gerade heute erneut an das Wissenschafts- und Bildungsverständnis von Wilhelm von Humboldt erinnern muss: dass Forschung und Lehre frei sein müssen und dass es in der Pädagogik immer noch darum geht, eine „proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen“, so Humboldt, sicherzustellen.
Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.