Insekten zum Abendmahl?

Vom Honig zur Asche – über eine neue Kultur der Ernährung

„Als sie aber aßen,
nahm Jesus das Brot,
dankte und brach›s
und gab’s den Jüngern
und sprach:
Nehmet, esset;
das ist mein Leib.“

 

Das letzte Abendmahl weist deutlich über sich selbst hi­naus: Es ist nicht nur Ausgangspunkt für mannigfaltige künstlerische Bearbeitungen, sondern auch Vorlage für die satirische Interpretation der Sondierungsgespräche in Berlin oder Verballhornungen in der Werbung. Essen als Gemeinschaftsakt bietet einen willkommenen, gerne auch einmal konterkarierten Identifikationsanker – als Sehnsuchtsbild erzeugt es persönliche und kollektive Erinnerungen und Hoffnungen. Ganz ähnlich emotional aufgeladen ist das unsägliche Geknipse vom Abendessen unter Freunden, ob nun zu Hause oder beim Lieblingsitaliener um die Ecke. Unter dem Hashtag #foodporn finden sich allein auf Instagram über 140 Millionen Bilder: der grünlich schimmernde Milch-Shake, das medium rare gebratene, feinadrig von Fett durchzogene Stück Rindfleisch oder der vom Barrista kunstvoll zum Kleeblatt gegossene Milchschaum des selbstverständlich bis spätestens 12 Uhr getrunkenen Cappuccinos. Allerliebst dekoriert ist Essen „wirklich zu einem Phänomen geworden, mit dem man die eigenen Werte, Vorlieben und Orientierungsgrößen kommunizieren kann“ – ein wunderbares Mittel, Individualität auszudrücken, so zumindest die österreichische Trendforscherin Hanni Rützler.

 

All dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ernährung der Weltbevölkerung nicht in der individuellen Handhabung und mit dem nachbarschaftlich gewachsenen Apfel gelöst werden kann. In etwas mehr als 30 Jahren werden nach Berechnungen der Vereinten Nationen zehn Milliarden Menschen unseren Planeten bevölkern. 30 Jahre, in denen wir Zeit haben, uns von vielen lieb gewonnenen kulinarischen Gewohnheiten zu verabschieden. Denn eines ist bereits heute klar: Mit den bisherigen Methoden und Produkten von Agrarwirtschaft, Lebensmittelindustrie und -handel wird es nicht möglich sein, die Menschheit zu ernähren.

 

Es ist also unabdingbar, neue Wege in der Nahrungsmittelproduktion zu beschreiten. Naheliegend ist, dass neuartige Lebensmittel entwickelt werden müssen, die unseren kulturell erprobten Umgang mit Ernährung vor einigermaßen harte Belastungsproben stellen werden. Das Rezept für den „falschen Hasen“ etwa, das in der Ausstellung „Food Revolution 5.0 – Gestaltung für die Gesellschaft von morgen“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe präsentiert wird, sieht – statt Hackfleisch und Brötchen – Mehlwürmer und Grillen vor. Letztere sollen zwar überaus wohlschmeckend sein, aber so richtig vorstellen mag sich das niemand. Umso weniger, da die Industrienationen noch in einer vermeintlich heilen Welt des Überflusses leben und deren wertkonservativ geprägte Ernährungsgewohnheiten von der Kommunikation der Nahrungsmittelkonzerne systematisch bedient werden: Da wird der selbstverständlich industriell gefertigte Joghurt liebevoll in Opas Holzbottich angerührt und die Piemont-Kirsche noch mit der Hand gepflückt. Das Bodenständige, vermeintlich Authentische oder gar Autochthone vermittelt ein maximales Sicherheitsgefühl und wirkt durch die scheinbare Nähe zum Produzenten im wahrsten Sinne naheliegend. Produktionsstraßen mit automatisierter Lebensmittelproduktion will keiner in der Werbung sehen.

 

Die tatsächlichen Produktionsprozesse bleiben weitestgehend verschleiert, es sei denn, es gilt mal wieder einen Skandal aufzudecken. Davon gab es in der Vergangenheit bedauerlicherweise mehr als genug. Das säht verständlicherweise Misstrauen. Es erklärt allein aber nicht die Innovationsfeindlichkeit gegenüber neuen Nahrungsmitteln.

 

Es sind gleichermaßen kulturell bedingte Gepflogenheiten, die dem im Wege stehen. Religiös geprägte Einstellungen zur Ernährung nehmen da einen großen Platz ein, aber auch durchaus weltliche Fragen nach der Esskultur und der gesellschaftlich vermittelten Bedeutung von Lebensmitteln und der Art und Weise ihres Verzehrs. Werden wir bald im Sternelokal eine neue Mehlwurmkreation an Sojasprossen vornehm mit Messer und Gabel essen, womöglich mit einer Serviette im Kragen? Sehr schwer vorstellbar aus heutiger Sicht – aber möglicherweise unumgänglich.

 

Um die notwendigen Schritte in die Zukunft der Ernährung gehen zu können, bedarf es hochgradig innovativer und zugleich nachhaltiger, wie insbesondere gesellschaftlich akzeptierter Veränderungsprozesse, um die Versorgung bereits unserer Enkelgeneration sicherzustellen. Veränderungsprozesse, die schon heute besprochen werden müssen.

 

Aus diesem Anlass hat im November 2017 in Berlin bereits zum zweiten Mal der „Global Food Summit“ stattgefunden, bei dem die Ernährung in einer sich verändernden Gesellschaft verhandelt wurde. Entlang der Lebensmittelkette, also von der Agrarwirtschaft über die Lebensmittelindustrie bis zum -handel wurde der aktuelle Stand der Wissenschaft genauso vorgestellt wie die Herausforderungen und Limitationen einer trotz großer Lebensmittelkonzerne wie Nestlé oder Kraft Foods extrem kleinteiligen Branche.

 

Erstaunliche Entdeckung dabei war insbesondere, dass für Forschung und Entwicklung genauso wie für die Implementation in die betrieblichen Produktionsprozesse genügend Geld bereitsteht. Die Zuversicht ist groß, mit Innovationen die Herausforderungen zu bewältigen. Die beiden entscheidenden Faktoren, die den positiven Blick in die Zukunft trüben, sind einerseits die schier unüberschaubaren amtlichen und gesetzlichen Reglementierungen. Und der bereits beschriebene, sehr innovationskritische gesellschaftliche Konsens – an dem die Lebensmittelwirtschaft, wie sie teilweise selbstkritisch zugibt, ihren gehörigen Anteil hat.

 

Es bedarf also dringend eines gesellschaftlichen Diskurses, bei dem die „Kultur der Ernährung“ neu definiert wird. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat schon ab 1964 mit seinem vierbändigen Werk „Mythologica“ den Weg gewiesen, wo ein solcher Diskurs anknüpfen könnte: Er beschäftigt sich darin unter anderem mit dem sogenannten Referenzmythos, beispielhaft mit dem Gegensatz von Honig und Tabak. Im „Übergang von der Natur zur Kultur“ steht das eine für die verführerische, natürliche Kraft und das andere für die Kommunikation zwischen Menschen und einer übernatürlichen Ordnung. Vielleicht liegt in der kritischen Analyse westlicher Ernährungsmythen rund um das gemeinsame Essen, die Bilder wie das letzte Abendmahl so ikonografisch präsent machen, die Chance für eine neue Aufgeschlossenheit auch gegenüber Insekten als Nahrungsmittel?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 1/2018.

Boris Kochan
Boris Kochan ist, als Präsident des Deutschen Designtages, Sprecher der Sektion Design im Deutschen Kulturrat und zugleich Mitgründer des deutschen Ablegers von Slow Food und Co-Head der Konferenz Global Food Summit.
Vorheriger ArtikelWettergott spielen?
Nächster ArtikelÖffentlichen Zugang ermöglichen