„Die Natur als Ganzes können wir Menschen nicht zerstören“

Werner Nachtigall im Gespräch

Man spricht heute von Schwarmintelligenz, angelehnt an Vogel- und Fischschwärme. Können Tiere auch Vorbild sein für die Wissensentwicklung und -vermittlung?

Eigentlich schon, aber da wird auch wieder falsch argumentiert. Ein Schwarm ist nicht intelligent, sondern er zeigt ein Verhalten, dass Menschen so interpretieren. Ein Vogel- oder Fischschwarm umhüllt einen Angreifer so oder bildet eine dichte Masse, dass er gar nicht mehr weiß, wie und wo er zugreifen soll. Aber was ist daran intelligent? Der Begriff ist nicht sehr gut.

 

Im Grunde ist es Ausdruck von Arbeitsteilung. Vogelschwärme tun das auch beim Fliegen.

Die Vögel messen ihre Abstände über ihr Drucksinnesorgan und die Augen. Wenn sie zu dicht fliegen, verdünnt sich der Schwarm. Bei Graugänsen etwa, die ich untersucht habe, fliegt eine eine Weile an der Spitze, die anderen in ihrem Windschatten und sparen Energie. Wenn die vordere müde wird, verlangsamt sie und reiht sich ein. Eine andere Gans muss dann das Leittier machen und mehr Energie aufwenden. Wie sie das machen, weiß man nicht. Aber es ist sehr effizient.

 

Die Dinosaurier gelten als bekanntestes Beispiel, dass Tiere und Pflanzen trotz aller evolutionärer Anpassungen irgendwann nicht mehr auf große Veränderungen der Umwelt reagieren können und aussterben. Können wir als menschliche Spezies selbst von diesem großen Scheitern lernen, mit Blick vor allem auf den Klimawandel?

Die großen Landarten sind ausgestorben, weil sie sich unter den veränderten klimatischen Bedingungen nach dem Einschlag eines großen Meteoriten nicht halten konnten, aber die Dinosaurier sind nicht völlig verschwunden. Die heutigen Vögel sind Nachkommen des Tyrannosaurus Rex. Krokodile gibt es bis heute unverändert. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass sich einige Arten angepasst und weiterentwickelt haben wie der winzige Kolibri. Das gibt es in der Natur immer wieder: Was dem einen der Tod ist, ist dem anderen sein Leben.

 

Es könnte also sein, dass es irgendwann kleine Menschlein gibt, die das große Artensterben ihrer Spezies überlebt haben, weil sie sich dem veränderten Klima angepasst haben?

Sicher. Man muss sehen, was übrig bleibt und dann in die ökologischen Gegebenheiten passt. Das, was ist, bleibt nicht. Es entwickelt sich in jedem Fall weiter. Wie, lässt sich nicht vorhersagen. Wenn es immer wärmer wird auf der Erde, werden die Lebewesen einen Vorteil haben, die sich schon heute in wärmeren Regionen fortpflanzen. Die aus den kälteren Regionen werden aussterben.

 

Umweltschützer haben häufig ein verklärtes Bild der Natur. Das Coronavirus zeigt jedoch, dass die Natur nicht per se freundlich zu uns Menschen ist.

Wenn sich in der Natur etwas ändert, gibt es immer Profiteure und andere, die darunter leiden. Das ganze System ändert sich. Schon in 100 Jahren wird die Natur ganz anders sein, sodass gewisse Tiere oder Pflanzen eine Überlebenschance haben, die sie heute noch nicht haben. Und umgekehrt. Es geht nicht ums Gänseblümchen oder den Vogel des Jahres. Das ist alles schön. Aber das interessiert die Natur nicht. Was die Natur immer behalten wird und was wir Menschen nicht zerstören können, ist ihre Gesamtheit. Die bleibt nicht konstant, in einer Million Jahre schon gar nicht.

Aber sie wird sich erhalten. Wir müssen nicht einzelne Bäume und Baumarten schützen. Wenn die nicht mehr in eine veränderte Umwelt passen, werden sie aussterben. Dafür wird die Natur andere Bäume ansiedeln, wie sie es immer gemacht hat. Deshalb sollte man nicht zu viel in den Schutz einzelner Arten stecken, sondern die Natur machen lassen. Die Tiger und Elefanten werden genauso aussterben wie die Mammuts, wenn sie in einer veränderten Umwelt nichts mehr zu fressen finden. Das ist nicht dramatisch. Die Natur wird sie durch andere Arten ersetzen.

 

Wie ist Ihr eigenes Verhältnis zur Natur nach all den Jahren als Technischer Biologe: ein ehrfürchtiges oder ein pragmatisches?

Je nach Stimmung das eine wie das andere. Im Allgemeinen ein sehr nüchternes aufgrund der Zusammenhänge, die ich in einem langen Biologen- und Technikerleben gelernt habe. Die Natur erhält sich selbst, auf ihre Tour. Sie braucht den Menschen nicht.

 

Sehen Sie hinter den Bauplänen der Natur, mit denen Sie sich bis heute beschäftigen, einen Schöpfergeist oder ein reines Produkt der Evolution?

Der Schöpfer hat seine Berechtigung in der Philosophie und der Religion. In der Naturwissenschaft nicht. Als Schüler und Student habe ich mich mit solchen Fragen herumgequält, wo ist der Sinn des Ganzen? Wenn es einen Schöpfergott gibt, warum macht er dann so vieles, was erkennbarer Unsinn ist? Warum lässt er Leid zu? Damit beschäftige ich mich am Ende des Lebens nicht mehr. Wenn es einen Gott gibt, werde ich es schon noch merken.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2021.

Werner Nachtigall & Ludwig Greven
Werner Nachtigall ist Zoologe und Pionier der Bionik. Er befasst sich vor allem mit Bewegungsmechanismen im Tierreich und Flugbiophysik. Ludwig Greven ist freier Publizist.
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