Die Bestenliste

50 Jahre Kunstkompass

Seit 1970 macht der Kunstkompass den Kunstmarkt Jahr für Jahr ein Stück transparenter. Mit diesem Ziel erstellte der Kunst- und Wirtschaftsjournalist Willi Bongard vor 50 Jahren die erste Ausgabe – zu Beginn: ein Skandal! Nach Bongards Tod übernahm Linde Rohr-Bongard den Kunstkompass. Welche Rolle dabei Joseph Beuys spielte und wie der Kunstkompass sich seitdem verändert hat, berichtet die Künstlerin und Journalistin im Gespräch mit Theresa Brüheim.

 

Theresa Brüheim: Frau Rohr-Bongard, für die jährliche Erstellung des Kunstkompasses beobachten Sie rund 30.000 Künstlerinnen und Künstler sowie 300 Museen. Wie ist das zu bewältigen?

Linde Rohr-Bongard: Mit jedem Jahr wird die Recherche immer umfangreicher. Beim ersten Kunstkompass existierten lediglich 18 Museen als Parameter. In den ersten Jahren haben Willi und ich uns die Museumsrecherche aufgeteilt. Wir untersuchten aber auch viele Galerien von Tokio bis Los Angeles – das ist heute gestrichen, da Galerien für den Kunstkompass zu stark am Verkauf orientiert sind. Der Kunstkompass sollte nie Anleitung zum Kunstkauf sein, sondern Orientierung über den unübersichtlichsten aller Märkte geben.

In der ersten Zeit haben wir dann bei der Erstellung die Wände mit Karteikarten vollgepflastert, die wir für jeden einzelnen Künstler hatten. Computer gab es ja noch nicht. Heute habe ich einen Computerfachmann an meiner Seite, der die Rechercheergebnisse in die Datenbänke einträgt. Außerdem habe ich Unterstützung von zwei weiteren Mitarbeitern. Wir sind ein kleines Team. Aber die inhaltliche Arbeit mache ich überwiegend allein. Es ist eine ausufernde Arbeit, aber ich liebe sie – da schreckt das nicht ab.

 

Sie sagten es: Willi Bongards Intention war es, mit dem Kunstkompass Licht in das Dunkel des Kunstmarktes zu bringen.

Er wollte eine Transparenz erzeugen. Der Kunstkompass sollte nie ein Index sein: Höchstverkäufe auf Auktionen und Ähnliches spielen beim Kunstkompass keine Rolle. Die Resonanz in der Fachwelt ist entscheidend.

Davon zeugte auch das Vorgehen: Um die ersten 18 Museen als Parameter zu identifizieren, schrieb Willi über hundert Kunstfachleute an, wie Harald Szeemann und Pierre Restany, mit denen er in sehr gutem Kontakt stand. Er hatte ja bereits in der ZEIT die Kunstmarktseite „Kunst als Ware“ etabliert. 18 Museen waren das Ergebnis. Unter ihnen: das Museum of Modern Art New York, das Museum für Moderne Kunst Paris, die Kunstsammlung NRW und das Stedelijk Museum Amsterdam. Jedes Jahr kamen neue Museen hinzu. Das entspricht der Kunstweltsituation. Überall auf dem Globus schießen neue Museen aus dem Boden. Das schlägt sich natürlich in der Recherche des Kunstkompasses nieder.

 

International war der Kunstkompass von Beginn an: Ein USA-Aufenthalt gab seinen Ausschlag …

Das stimmt, Willi hatte ein zweijähriges Stipendium für die USA. Ein Jahr davon hielt er sich in New York auf, recherchierte und beobachtete – mit einer Leidenschaft und Freude für den Markt besuchte er die Museen und Galerien. Dabei stellte er fest, dass es keine vernünftigen internationalen Informationen über die Funktionsweise der Kunstwelt gab. Im Ergebnis erschien 1967 sein Buch „Kunst und Kommerz“. Parallel schrieb er in der ZEIT zu den Fragen: Wer bestimmt den Kunstmarkt? Was sind die führenden Kräfte? Er nahm Museen, Ausstellungsmacher, Galeristen, Editeure, Künstler, Märkte und Messen in den Blick. Allmählich entwickelte sich die Idee der systematischen Untersuchung.

Und er hatte große historische Vorbilder: zum einen den Renaissance-Maler und -Theoretiker Giorgio Vasari, der im 15. Jahrhundert die Bedeutung und Qualität von Künstlern festhalten wollte. Dabei definierte er Kriterien wie Schüler, Ausbreitung, Kompositionen und handwerkliche Fähigkeiten. Seine Liste wurde von Raffael angeführt. Zum anderen war es später Roger de Piles, ein französischer Kunstkritiker. Der erstellte 1605 ebenfalls eine Liste der wichtigsten Künstler.

Zwar berief sich Willi auf diese Vorbilder, aber maßte sich nicht an, die Qualität der Künstler zu bemessen. Sondern er wollte die Resonanz, die ein Künstler durch seine Ausstellungen, Auszeichnungen, Rezensionen und Ankäufe der Museen in der Kunstwelt genießt, messen. Das bedeutet auch, dass im Kunstkompass Einzelausstellungen im MoMa oder in der Tate Modern gewichtiger sind als z. B. im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum.

Wenn man also davon ausgeht, dass Qualität in hohem Maße mit Ruhm korreliert, dann könnte man sagen, es ist eine Bestenliste.

 

Diese Bestenliste führt heute im 17. Jahr in Folge Gerhard Richter an.

Ein Richter thront ganz oben. Jahr für Jahr werden die Punkte akkumuliert. Insofern kann es nicht zu dramatischen Veränderungen kommen. Denn der Punktevorsprung, den diese einzelnen Künstler haben, ist sehr groß. Um Richter einzuholen, müsste Bruce Nauman, die Nummer 2 im aktuellen Kunstkompass, in einem Jahr über 35.000 Punkte dazugewinnen – das ist die Realität. Er ist nun mal der gefragteste und auch einer der teuersten Künstler. Jeder möchte ihn ausstellen. Vor einigen Monaten gab Richter bekannt, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr malen wird. Das wird sich nicht nachteilig auf seine Resonanz auswirken – im Gegenteil. Er wird noch gefragter werden.

 

Die Repräsentanz von Frauen im Kunstkompass ist Ihnen ein besonderes Anliegen. Wie hat sie sich entwickelt?

Bei den Top 100 im Kunstkompass, die heute eben Richter anführt, waren anfangs nur fünf Frauen vertreten – und das auch auf den hinteren Platzierungen, z. B. Bridget Riley, Niki de Saint Phalle, Marisol Escobar. 1990 waren es erstmalig zehn Frauen. Das habe ich groß gefeiert. Heute sind bei den Top 100 etwa ein Drittel Frauen. Bei den „Stars von morgen“ ist bereits die Hälfte der Gelisteten weiblich.

Linde Rohr-Bongard & Theresa Brüheim
Linde Rohr-Bongard verantwortet den Kunstkompass. Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.
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