ShapeShifter Games

Computerspiele als Material und Kontext künstlerischer Praxis

Computerspiele sind die Kunstform des 21. Jahrhunderts. Mit dieser Aussage wurde Henry Jenkins, amerikanischer Kulturtheoretiker und langjähriger Leiter des Comparative Media Studies Gamelab am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Boston, zum vielzitierten Visionär. Sinngemäß gründet sich diese Aussage auf einen Vergleich der historischen Entwicklung der jeweils wechselnden Leitmedien einer Gesellschaft. Ich selbst habe diese Zusammenhänge in dem EU-Forschungsprojekt „Play and Prosume“ mit einem internationalen Team untersucht. Das Ergebnis bildete eine in der Wiener Kunsthalle installierte Ausstellung. Ihre Form war ein verräumlichtes Computergame zur individuellen Überwachung und Beeinflussung – als exemplarische Anwendung des neuen Leitmediums. Das künstlerisch forschende Spielziel war körperliche Erfahrung und Wissensgenerierung. Dies gilt im aktuellen Zusammenhang neuester Spiele und Kunst nicht minder.

 

Technologisch definierte Mittel werden durch Kunst gesellschaftlich etabliert. Denken wir nur an die revolutionären Animationsfilme von Lenn Lye, Kaleidoscope oder Rhythm, oder Hans Richter, mit dem programmatischen Titel Rhythmus 21, beeinflusst vom Schweizer DADA. Daneben entstanden sozial engagierte Kameraexperimente wie Walther Ruttmanns Berlin: Die Sinfonie der Großstadt. Es folgte am Beginn des Fernsehzeitalters das erweiterte Kino Valie Exports, das durch das Spiel mit der Materialität des Mediums neue Maßstäbe für ästhetische und kommunikative Formen setzte. Letztere Künstlerin eröffnet in ihrer Arbeit, mit dem revolutionären Tapp und Tastkino, bereits ein Feld, das wir heute in verkörperlichten Schnittstellen für den Spielemarkt erleben. Die spektakulärsten Spielzeuge solcherart sind wohl jene Brain Devices, die mittels Elektroenzephalografie (EEG) funktionelle Hirnimpulse zur Spielsteuerung abnehmen und ein ganz neues intuitives Spiel mit dem Maschinensystem erlauben. Wir kennen all diese Experimente als Medienkunst, die zu jenem Genre führte, das ich heute als Leitmedium identifizieren möchte: Games als umfassende Medien, die menschliches Sein in seiner innersten Körperlichkeit betreffen und alles adressieren: Everything!

 

Everything wurde vom bekannten Gestalter David O’Reilly dieses Jahr veröffentlicht und bei den Berliner Filmfestspielen präsentiert. Es ist ein gutes Beispiel für ein neues künstlerisches Spiel. In einer fließenden Spielmechanik wechselt man laufend seine eigene Identifikations- und Repräsentationsform. Eine changierende Repräsentation der eigenen Körperlichkeit erlaubt unorthodoxe Interpretationen grundlegender Bedingungen des Seins. Ein ganzheitlich philosophischer Inhalt wird über Zitate vermittelt, in einer selbstbestimmten Form künstlerischen Ausdrucks, die auf Realitäten des täglichen Lebens und Tropen und Ästhetiken der Computer Games referiert. Denkmuster werden im Spielfluss und kreativen „Flow“, ganz im Sinne aktueller Glücksforschung, im Verstehen von Zusammenhängen erprobt. Sinn wird aus absurd Erscheinendem prozessiert. Spielziel ist die Einsicht in grundlegende Fragen der menschlichen Existenz.

 

Ein solcherart schillerndes Computerspiel emanzipiert die Spielenden vom Zwang des Handelns, vom digitalen Imperativ der Partizipation. Im neuen Spielfluss gibt es kein Belohnungssystem um ein (militärisches) Ziel zu erfassen. Problemlösen wird durch Verstehen abgelöst. Unser klassisches Verständnis von Computer Games als Shooter und Puzzlesystem ist damit obsolet. Solche Spiele erscheinen mir nur für Experimente mit nicht humanen Primaten nützlich, wenn es um das Design klar kontrollierbarer Systeme und die Generierung deutlich auswertbarer Daten geht – wie ich es jüngst am Washington Primate Research Center in Seattle erleben konnte. Dies ermöglicht die Erforschung unserer Hirnfunktionen und -dysfunktionen. Für den Erkenntnisgewinn und die mentale Weiterentwicklung der Spielenden braucht es aber Spiele, die ureigenste amorphe Formen annehmen.

 

In den Games haben wir die erste Phase der Game Art hinter uns gelassen. In den Künsten wird nun ganz selbstverständlich auf Computerspiele als Lebensrealität referiert. Umgekehrt haben die elektronischen Spiele ein Stadium erreicht, in dem aufbauend auf eine breit gestützte Kultur der Reflexion, Theorie und Forschung sowohl Ausdrucksform als auch Sinnstiftung in einem neuen künstlerisch forschenden Feld reklamiert werden können. Zum einen zeigt dies die breite Anwendung bestehender Spiele im täglichen Leben, in Wirtschaft (Gamifizierung) und Life Sciences, zur Gestaltung von Experimenten als regelgeleitet kontrollierbare und auswertbare Systeme. In dem Moment, in dem die spielenden und mit Technologien souverän sozialisierten Gestalter auf eine fundierte Ausbildung blicken können, hat sich auch eine auf der Gameskultur fußende eigene Kunstform etabliert. Gewiss bin ich als Lehrende in diesem Bereich voreingenommen. Allerdings lässt sich meine Behauptung anhand von Beispielen, wie ich hier nur eines näher ausführen konnte, und anhand der empfehlenswerten Liste von online einsehbaren Abschlussarbeiten des Game Design Studienganges im Bachelor- und Master-Niveau belegen. Ein zunehmender Wandel der Inhaltlichkeit, der Spieldynamiken und ihrer ästhetischen und gesellschaftlichen Bedeutung lässt sich anhand von immer mehr Anwendungen zeigen, die man zwar noch als Computer Games bezeichnen kann – aber viel besser als neue forschend reflexive Form im elek­tronischen und sozialen Körper versteht.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.

Margarete Jahrmann
Margarete Jahrmann ist Professorin für Game Design an der Züricher Hochschule der Künste und Gast­professorin für das neue künstlerische Doktorratsprogramm der Universität für Angewandte Kunst Wien.
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