Ein verworrenes Konglomerat

(K)Eine Geschichte der Computerspiele

Doch das so bekannte wie erfolgreiche „World of Warcraft“ (2004) ist mehr als nur Wettkampf. Es ist auch Online-Multiplayer, Rollenspiel und Fantasy. Diese Charakteristika wurzeln an anderer Stelle. Roy Trubshaw und Richard Bartle entwickelten 1978 die sogenannten „MUDs“ (Multi-User Dungeons), welche die Fantasy-Welten von „Dungeons and Dragons“ (1974) und damit auch „Lord of the Rings“ (1954/1955) kollektiv spielbar machten. Untrennbar ist die Entwicklung der Computerspiele mit den Forschern an US-amerikanischen Instituten und Universitäten verbunden. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass diese „MUDs“ schon Anfang der 1980er-Jahre an das ARPAnet, den Vorläufer des Internets, angeschlossen wurden. Die ersten Online-Rollenspiele waren geboren. Aus einfachen Texten wurden in den 1980er Jahren rudimentäre Grafiken, aus rudimentären Grafiken wurde in den 1990er Jahren 3D-Grafik. Der enorme kommerzielle Erfolg von „Ultima Online“ (1997) nahm dann vorweg, was „World of Warcraft“ 2004 noch einmal potenzieren sollte.

 

Damit gibt es mindestens zwei Ursprünge moderner Computerspiele. Mindestens deswegen, weil andere Fragestellungen auch wieder andere spezifische Entwicklungslinien aufzeigen können. Fragen kann man z. B. nach den Wurzeln deutscher Computerspieleentwicklung – was in den nächsten Jahren unbedingt noch verstärkt getan werden sollte. Tut man dies, so fällt auf, dass sich ganz erhebliche Unterschiede zwischen der BRD und der DDR auftun. Gemein ist beiden Staaten, dass der Import von Computerhardware und -spielen aus den USA von großer Bedeutung war. Doch während dieser Import in Westdeutschland problemlos möglich war und sich auch internationale Publisher wie Atari und Activision in den 1980er Jahren in der BRD ansiedelten, war dieser Import in der DDR eigentlich verboten. Um dieses Defizit auszugleichen, war es nicht ungewöhnlich, dass sich Spieler in der DDR die notwendigen Kenntnisse aneigneten, um selbst Spiele zu entwickeln. So konnte sich – auch im Verbund mit privaten Schmuggelaktionen – trotz einer ungünstigen Ausgangssituation eine Computerszene in der DDR entwickeln. Als besonders spannend erweist sich, wie Computerspiele und vor allem die Computerspieleentwicklung in die offizielle Kultur- und Bildungspolitik der DDR integriert wurden. Das zeigt sich beispielsweise am in Frankfurt an der Oder entwickelten „Bildschirmspielgerät 01“, das für Privatnutzer kaum bezahlbar war, aber an Bildungsinstitutionen und Jugendzentren verkauft wurde. US-amerikanische Heimcomputer wie der C64 oder der Sinclair ZX81 sorgten währenddessen in der BRD für ein rasant wachsendes Interesse an Computerspielen.

 

Auch spezifischen Spieltraditionen kann in Deutschland historiographisch nachgespürt werden. Die Dominanz von Strategiespielen oder Browsergames lässt sich beispielsweise bis ins ausgehende 20. Jahrhundert zu „Anno“, „Siedler“ oder „OGame“ zurückverfolgen. Auch der spezifisch deutsche Umgang mit dem Jugendschutz, der sich in der USK manifestiert, ist historisch gewachsen.
Klar ist: Es gibt nicht „die“ Geschichte der Computerspiele, sondern unzählige Geschichten der Computerspiele. Viele dieser Geschichten wurden noch nicht erzählt. Es gilt zu verstehen, dass das, was wir also heute Computerspiele nennen, ein Konglomerat verschiedener Entwicklungsstränge, Zielsetzungen und Themen ist, die heute unter einem Begriff vereint werden. Diese Diversität, die nur schwer unter einen Begriff gefasst werden kann, zeigt sich auch noch heute in den verschiedenen Nutzergruppen, Verkaufsmodellen, Spielinhalten und Zielsetzungen. Diese Erkenntnis ist wichtig und ist Rüstzeug, um pauschalen Verurteilungen von Computerspielen zu begegnen: Wer „den“ Computerspielen Charakteristika zuschreibt, sie als gewaltverherrlichend verbieten will, sie als Suchtmittel verpönt, sie als oberflächlich abtut, dem fehlt der Blick für die Diversität dieses Mediums – oder gar: dieser Medien, dem rate ich einen Blick zu den Wurzeln der Computerspiele an. Auch die Game Studies des 21. Jahrhunderts nehmen diese Diversität vermehrt wahr, fokussieren sich auf bestimmte Typen von Spielen, auf Genres, auf Spielertypen, um Aussagen zu treffen, die diese Diversität widerspiegeln können. Die interdisziplinäre „Game History“ wird von all den Geschichten profitieren, die in Zukunft noch erzählt werden. Und vor allem: Sie wird uns helfen, die Computerspiele, die heute fast allgegenwärtig erscheinen, besser zu verstehen.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.

Felix Zimmermann
Felix Zimmermann promoviert in Köln zu Atmosphären im Computerspiel.
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