Ein verworrenes Konglomerat

(K)Eine Geschichte der Computerspiele

In diesem Artikel geht es nicht um die Geschichte der Computerspiele. Was ich allerdings sehr wohl anbieten möchte, ist eine Geschichte der Computerspiele. Der Unterschied scheint marginal: „eine“ Geschichte, „die“ Geschichte – Wortklauberei. Doch so einfach ist es dann doch nicht.

 

Als ich mir also überlegte, wie ich diese Geschichte der Computerspiele angehen möchte, stellte sich die Frage, was in einer solchen Geschichte unbedingt vorkommen muss. Der Platz ist natürlich begrenzt. Der Selektionsprozess begann. Ich überlegte mir einen Anfang, einen Mittelteil, einen Schluss, insgesamt: eine Narration. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr absolut notwendig, um eine Geschichte zu erzählen. Solch eine Erzählung ist dann auch etwas sehr Persönliches, eine Auswahl, die ein Historiker traf, um einen Sinn aus der Vergangenheit zu ziehen. „Eine“ Geschichte der Computerspiele schreiben zu wollen, unterstreicht genau das. Wer glaubt, man könne „die“ Geschichte der Computerspiele zu Papier bringen, blendet sich selbst als Autor und den Konstruktcharakter der eigenen Narration aus. Die Illusion wird erzeugt, man könne einfach wiedergeben, wie es wirklich gewesen ist.
„Ein alter Hut“, mögen manche nun sagen. „Das hat der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White doch schon vor Jahren gesagt“, unterstreichen die anderen. Doch es gibt – Überraschung – einen Grund, warum ich so ausführlich einleite. Was sich in anderen Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft schon längst Bahn gebrochen haben mag, findet erst seit wenigen Jahren vermehrt Einzug in die historiographische Auseinandersetzung mit der Entstehung der Computerspiele. 2016 zogen beispielsweise Henry Lowood und Raiford Guins aus, die Geschichte der Computerspiele zu „debuggen“, d. h. – wie im Computerspiel – Fehler auszubügeln. Was bedeutet das?

 

Nun, die Geschichten, die bisher zu Computerspielen geschrieben wurden, sind vielfach (aber natürlich nicht ausschließlich) chronologisch-deskriptiver Natur. Am Anfang stand Spiel X, zwischendurch ein Crash des Marktes, doch heute sind Computerspiele stärker als jemals zuvor. Eine Erfolgsgeschichte also, welche die Historiographie zum Computerspiel dominiert. Problematisch ist das dann, wenn über dieses Erfolgsnarrativ nicht reflektiert wird, nicht gefragt wird, warum diese Geschichte so erzählt wird, warum bestimmte Ereignisse ausgewählt und andere ausgelassen wurden.

 

Damit verbunden ist die Frage: Wofür brauchen wir Geschichtsschreibung? Auch in der „Game History“ lautet die Antwort darauf mittlerweile: Sie soll uns lehren, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart zu verstehen. Die Zukunft dieser „Game History“ liegt in den interpretativen Sozial- und Kulturgeschichten des Computerspiels, in den klar fokussierten Fragestellungen auf einzelne Aspekte der Computerspielgeschichte, in den Narrationen, die uns in der Gegenwart helfen, mit Computerspielen umzugehen.

 

Auch das Narrativ des „Homo Ludens Digitalis“, das das Computerspielemuseum Berlin postuliert, konstituiert eine solche Geschichte. Sicherlich geht es auch zentral um eine Chronologie der Computerspiele, doch gerahmt wird diese von der Vorstellung, dass sich der natürliche Spieltrieb des Menschen in diesem digitalen und interaktiven Medium fortsetzt. Diese Narration ist auch handlungsweisend für die Gegenwart.

 

Ich möchte nun auch eine kurze Geschichte der Computerspiele versuchen, genauer: eine Geschichte von diversen Ursprüngen. Denn am Anfang der Computerspiele steht nicht nur ein Spiel, ganz einfach, weil es nicht „die“ Computerspiele gibt. Es ist schon sehr erstaunlich, was wir heute alles unter einen Begriff fassen, obwohl die Wurzeln doch an ganz verschiedenen Stellen liegen.

 

1958 entwickelte der Physiker William Higinbotham „Tennis for Two“, das schon erheblich an das später so erfolgreiche „Pong“ erinnert. Gedacht war dieses Spiel zur Unterhaltung von Besuchern des Brookhaven National Laboratory. Higinbotham hatte hierfür analoge Raketenverfolgungstechnologie und einen Oszilloskopen-Bildschirm umfunktioniert. Ein Patent meldete er nicht an, so bedeutsam schien ihm die ganze Sache dann doch nicht zu sein.

 

Damit hätten wir dann das erste Computerspiel gefunden. Nun ja, vielleicht. Schon 1952 entstand „Noughts and Crosses“ als Doktorarbeit von Alexander Douglas. Tic Tac Toe, aber ohne bewegliche Bilder. Alan Turing und Dietrich Prinz arbeiteten 1951 an einer Schachsimulation, 1948 entstand das „Cathode Ray Tube Amusement Device“, allerdings komplett mechanisch und ohne Computerprogramm. Das wirft die Frage auf: Was definiert überhaupt ein Computerspiel? Ein grafisches Bewegungsdisplay? Dann „gewinnt“ wohl „Tennis for Two“. Oder vielleicht digitale Hardware? Dann wären wir schon im Jahr 1962 und würden die Weltraumduelle von „Spacewar!“ als Pioniereinsatz für die Computerspiele loben. In jedem Fall war „Spacewar!“ das erste Spiel, das Anfang der 1970er Jahre als „Galaxy Game“ und „Computer Space“ für Automaten adaptiert und damit kommerzialisiert und verbreitet wurde. Das 1972 veröffentlichte „Pong“ adaptierte den sportlichen Wettkampf von „Tennis for Two“ dann auch mit kommerziellem Erfolg. Überhaupt: Wettkampf ist das Stichwort. Möchte man diesen Entwicklungsstrang der Computerspiele zusammenfassen, so ist dieser Aspekt zentral. Vom Brettspiel, vom Sport, vom Schlachtfeld auf die Bildschirme: die Wettkampfsimulation. Ein Großteil der Computerspiele ist diesen Ursprüngen bis heute verhaftet.

Doch das so bekannte wie erfolgreiche „World of Warcraft“ (2004) ist mehr als nur Wettkampf. Es ist auch Online-Multiplayer, Rollenspiel und Fantasy. Diese Charakteristika wurzeln an anderer Stelle. Roy Trubshaw und Richard Bartle entwickelten 1978 die sogenannten „MUDs“ (Multi-User Dungeons), welche die Fantasy-Welten von „Dungeons and Dragons“ (1974) und damit auch „Lord of the Rings“ (1954/1955) kollektiv spielbar machten. Untrennbar ist die Entwicklung der Computerspiele mit den Forschern an US-amerikanischen Instituten und Universitäten verbunden. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass diese „MUDs“ schon Anfang der 1980er-Jahre an das ARPAnet, den Vorläufer des Internets, angeschlossen wurden. Die ersten Online-Rollenspiele waren geboren. Aus einfachen Texten wurden in den 1980er Jahren rudimentäre Grafiken, aus rudimentären Grafiken wurde in den 1990er Jahren 3D-Grafik. Der enorme kommerzielle Erfolg von „Ultima Online“ (1997) nahm dann vorweg, was „World of Warcraft“ 2004 noch einmal potenzieren sollte.

 

Damit gibt es mindestens zwei Ursprünge moderner Computerspiele. Mindestens deswegen, weil andere Fragestellungen auch wieder andere spezifische Entwicklungslinien aufzeigen können. Fragen kann man z. B. nach den Wurzeln deutscher Computerspieleentwicklung – was in den nächsten Jahren unbedingt noch verstärkt getan werden sollte. Tut man dies, so fällt auf, dass sich ganz erhebliche Unterschiede zwischen der BRD und der DDR auftun. Gemein ist beiden Staaten, dass der Import von Computerhardware und -spielen aus den USA von großer Bedeutung war. Doch während dieser Import in Westdeutschland problemlos möglich war und sich auch internationale Publisher wie Atari und Activision in den 1980er Jahren in der BRD ansiedelten, war dieser Import in der DDR eigentlich verboten. Um dieses Defizit auszugleichen, war es nicht ungewöhnlich, dass sich Spieler in der DDR die notwendigen Kenntnisse aneigneten, um selbst Spiele zu entwickeln. So konnte sich – auch im Verbund mit privaten Schmuggelaktionen – trotz einer ungünstigen Ausgangssituation eine Computerszene in der DDR entwickeln. Als besonders spannend erweist sich, wie Computerspiele und vor allem die Computerspieleentwicklung in die offizielle Kultur- und Bildungspolitik der DDR integriert wurden. Das zeigt sich beispielsweise am in Frankfurt an der Oder entwickelten „Bildschirmspielgerät 01“, das für Privatnutzer kaum bezahlbar war, aber an Bildungsinstitutionen und Jugendzentren verkauft wurde. US-amerikanische Heimcomputer wie der C64 oder der Sinclair ZX81 sorgten währenddessen in der BRD für ein rasant wachsendes Interesse an Computerspielen.

 

Auch spezifischen Spieltraditionen kann in Deutschland historiographisch nachgespürt werden. Die Dominanz von Strategiespielen oder Browsergames lässt sich beispielsweise bis ins ausgehende 20. Jahrhundert zu „Anno“, „Siedler“ oder „OGame“ zurückverfolgen. Auch der spezifisch deutsche Umgang mit dem Jugendschutz, der sich in der USK manifestiert, ist historisch gewachsen.
Klar ist: Es gibt nicht „die“ Geschichte der Computerspiele, sondern unzählige Geschichten der Computerspiele. Viele dieser Geschichten wurden noch nicht erzählt. Es gilt zu verstehen, dass das, was wir also heute Computerspiele nennen, ein Konglomerat verschiedener Entwicklungsstränge, Zielsetzungen und Themen ist, die heute unter einem Begriff vereint werden. Diese Diversität, die nur schwer unter einen Begriff gefasst werden kann, zeigt sich auch noch heute in den verschiedenen Nutzergruppen, Verkaufsmodellen, Spielinhalten und Zielsetzungen. Diese Erkenntnis ist wichtig und ist Rüstzeug, um pauschalen Verurteilungen von Computerspielen zu begegnen: Wer „den“ Computerspielen Charakteristika zuschreibt, sie als gewaltverherrlichend verbieten will, sie als Suchtmittel verpönt, sie als oberflächlich abtut, dem fehlt der Blick für die Diversität dieses Mediums – oder gar: dieser Medien, dem rate ich einen Blick zu den Wurzeln der Computerspiele an. Auch die Game Studies des 21. Jahrhunderts nehmen diese Diversität vermehrt wahr, fokussieren sich auf bestimmte Typen von Spielen, auf Genres, auf Spielertypen, um Aussagen zu treffen, die diese Diversität widerspiegeln können. Die interdisziplinäre „Game History“ wird von all den Geschichten profitieren, die in Zukunft noch erzählt werden. Und vor allem: Sie wird uns helfen, die Computerspiele, die heute fast allgegenwärtig erscheinen, besser zu verstehen.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.

Felix Zimmermann
Felix Zimmermann promoviert in Köln zu Atmosphären im Computerspiel.
Vorheriger ArtikelSpiele-Blockbuster: Made in Germany?
Nächster ArtikelDas Hobby zum Beruf machen