Computerspiele sind die ersten digital geborenen Kulturgüter, die massenhaft und global produziert wurden. Sie waren die ersten Anwendungen, die jedermann befähigten, mit digitaler Technik umzugehen. Damit waren sie auch ein wesentlicher Motor für die Ausbreitung und Weiterentwicklung der Computertechnik und werden das auch in Zukunft bleiben.
Auf dieser gedanklichen Basis fußt die Initiative der Internationalen Computerspielesammlung ICBB, bei der sich die Partner Stiftung Digitale Spielekultur, Computerspielemuseum, Universität Potsdam und Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle sowie die Zentral- und Landesbibliothek Berlin zusammengetan haben, um mit der Zusammenlegung ihrer bereits vorhandenen Sammlungen, die weltgrößte Computerspielesammlung zu gründen. Auf Grundlage einer vom Medienboard Berlin-Brandenburg geförderten Machbarkeitsstudie hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im November 2016 initiale Mittel bereitgestellt, mit denen die einzelnen Bestände nun in einer ersten Stufe in einer gemeinsamen Datenbank erfasst und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Beschluss des Haushaltsausschusses ist die logische Fortführung des mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit gefassten Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 14. November 2007, auf dessen Basis seitdem der Deutsche Computerspielpreis verliehen wird und in dem es heißt: „Computerspiele transportieren gesellschaftliche Abbilder und thematisieren eigene kulturelle Inhalte. Sie werden damit zu einem bedeutenden Bestandteil des kulturellen Lebens unseres Landes und sind prägend für unsere Gesellschaft.“
Damit schließt Deutschland nicht nur zu anderen Ländern wie Frankreich, Schweden oder Dänemark auf, die ihre Nationalbibliotheken beauftragt haben, ihr jeweils nationales digitales Spieleerbe zu sammeln und für nachfolgende Generationen zu bewahren, sondern geht den nächsten konsequenten Schritt mit einer Internationalisierung dieser Sammlungstätigkeit.
Waren beim kommerziellen Durchbruch der Games in den frühen 1970er Jahren nur Wenigen die weltweiten Folgen dieser Entwicklung für unser Zusammenleben bewusst, verstehen wir heute die Tragweite dieser Entwicklung besser. Insofern hat sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Computerspielen von einem Spielzeug hin zu einem Kulturmedium gewandelt. Dabei handelt es sich um eine gesellschaftliche Aneignung, die so ähnlich auch schon bei früheren ehemals neuen kulturellen Phänomenen zu beobachten ist. So wurden z. B. auch Bücher und Filme anfänglich in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung unterschätzt. Üblicherweise waren es die Fans, die als erste den kulturellen Wert erkannten und sich für den Erhalt der Werke einsetzten. So wie die Cinémathèque in Paris als eines der ersten Archive für die damals noch junge Filmkultur 1935 von Filmenthusiasten um Henri Langlois gegründet wurde, waren es auch die Fans der Computerspiele, die das frühe World Wide Web Mitte der 1990er Jahre mit ihrem Hobby besetzten und damit begannen, die Geschichte ihres geliebten Kulturguts kollaborativ aufzuschreiben. Als Anfangspunkt dieser Bewegung lässt sich der 7. Dezember 1992 festhalten: Mit „alt.games.video.classic“ wurde die erste Newsgroup gegründet, die sich dem Austausch von Nachrichten und Diskussionen ausschließlich über klassische Videospiele widmete.
Diese erste Phase lässt sich mit einer mündlichen Geschichtsüberlieferung vergleichen: Vieles wurde aus der eigenen Erinnerung oder dem Hörensagen nach festgehalten – Dinge, die man auf anderen Seiten gelesen hatte, wurden zusammenkopiert oder verlinkt. Genauigkeit wurde zwar angestrebt, systematisch und wissenschaftlich fundiert waren die Aktivitäten aber nicht. Dennoch: Parallel zu dieser ersten Geschichtsschreibung entstanden bereits umfangreiche Archive und Metadatensammlungen, die ebenfalls von Fans zusammengetragen wurden. Dabei ist beachtenswert, dass die Gamer aufgrund ihrer naturgegebenen Nähe zum Internet eine der ersten Communities waren, welche die Potenziale des Netzes verstanden und bis heute für wegweisende Projekte nutzten. Dabei ging es nicht nur um große Datenbanken, deren Inhalte ausschließlich durch ihre Nutzer zusammengetragen wurden, sondern sie verstanden das Netz auch als kollaborative Arbeitsplattform. So entstanden ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hunderte von Emulatorenprojekten meist auf Open Source Basis, die heute eine der wesentlichen Strategien für die Bewahrung der digital gestützten Kultur weit über den Horizont der Games hinaus sind. Denn gelingt es uns, auch in Zukunft die historischen Hardwareplattformen in virtualisierter Form zu erhalten, können wir alle Inhalte und Programme, die jemals für diese Computer geschaffen worden sind, niedrigschwellig und authentisch zugänglich halten.
So verdienstvoll und wichtig die Leistungen der Fan-Community sind, ist es nun notwendig, sie in institutionelle Kontexte zu überführen und dort weiterzuentwickeln. Denn wir können nicht davon ausgehen, dass die Hauptmotivationsquelle der Community, eine emotionale Beziehung zu den historischen Spielen und Plattformen, auch zukünftig noch in gleichem Maße vorhanden ist. Schon heute werden viele ursprünglich Community-basierte Gamesbewahrungsprojekte nur noch von wenigen Menschen betrieben, was zu hohen persönlichen Abhängigkeiten führt. Hinzu kommt, dass die einzelnen Projekte meist nicht systematisch miteinander verknüpft sind, sodass die vorhandenen Daten und Inhalte nicht optimal genutzt werden.
Beiden Problemen wird durch die voranschreitende Institutionalisierung der Games-Bewahrung begegnet. Diese verbindet die jahrhundertealte Expertise der Bibliotheken, Informationen in großen Kontexten mit der Nachhaltigkeit eines soliden und von Personen unabhängigen Fundamentes zu verknüpfen. Zwar ist diese Betriebsweise auf den ersten Blick schwerfälliger und kostenintensiver als eine Bewahrung durch Fans, doch werden diese Nachteile langfristig durch die bessere und solidere Gewährung von Zugang zu diesem Teil unseres kulturellen Erbes mehr als wettgemacht.
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass auch die Bedarfslage sich ändert. Waren es anfangs vor allem nostalgische Gründe, warum die Games-Historie bewahrt wurde, treten an deren Stelle zunehmend gesellschaftliche Motive. Haben wir doch mittlerweile allein in Deutschland dutzende von akademischen Ausbildungen, die wesentlich auf der Geschichte der digitalen Spiele fußen. Neben soziologischen, physiologischen und philosophischen Forschungen geht es dabei oft auch um die Ausbildung neuer Gamedesigner und -programmierer – und damit um Innovationsfähigkeit. Und so wenig man sich eine Ausbildung von Filmregisseuren ohne den Zugang zum filmischen Kulturerbe vorstellen kann, ist es möglich, die gegenwärtigen Ausbildungskontexte rund um Games ohne einen geregelten Zugang zur Games-Geschichte dauerhaft zu betreiben.
Gerade in Zeiten rasanter gesellschaftlicher Umwälzungen, wie wir sie heute durch die Durchdringung unserer Welt mit den digitalen Technologien erleben, ist eine kulturelle Selbstvergewisserung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Fähigkeit, die Gesellschaft weiterzuentwickeln, essentiell. Die Internationale Computerspielesammlung wird dazu eine wesentliche Grundlage darstellen, indem sie jetzt und für zukünftige Generationen einen geregelten, verlässlichen und niedrigschwelligen Zugriff auf die Kulturgüter sicherstellt, in denen sich von Beginn der Digitalisierung an unsere kulturellen Traditionen mit den neuen Technologien gekreuzt haben.
Da wir bei diesem Prozess erst am Anfang stehen, wird sich die Internationale Computerspielesammlung damit auch zu einem Kompetenzzentrum rund um die Frage entwickeln, wie wir auch zukünftig Kultur praktizieren und vermitteln können. Erleben wir doch im Zuge der Digitalisierung eine grundlegende Veränderung unseres abendländischen Kulturbegriffes, weg von einem Werkbegriff hin zum Verständnis von Kultur als einem Prozess mit hohem partizipativen Anteil. Da wir uns von einer Zeit, in der die Spiele auf materiellen Datenträgern gespeichert wurden in eine Zeit hineinbewegen, in der sie über ein Login als Service nur mehr gestreamt werden, stellt diese kulturelle Zeitenwende für die Internationale Computerspielesammlung eine ganz konkrete Herausforderung dar. Auch stellen Multiplayer Online Spiele, die in ihrer Bedeutung permanent zunehmen, ein prototypisches Beispiel für eine hoch partizipative Kultur auf digitaler Basis dar. Insofern wird zukünftig auch zunehmend die Frage im Mittelpunkt stehen, vor welche Schwierigkeiten die Bewahrung und Vermittlung dieser im Kern sozialen Prozesse uns stellt und welche Chancen sie uns bietet.
Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.