Kulturgut Computerspiele

Traut Euch endlich, Künstlersein tut nicht weh!

Vor zehn Jahren überboten sich Politikerinnen und Politiker in Bund und Ländern mit ihren Vorschlägen, Gesetze zum Schutz von Jugendlichen und auch von Erwachsenen vor Computer- und Videospielen zu erlassen. Es war die Zeit, in der jeder Ausbruch von Gewalt seinen Ausgang vermeintlich in elektronischen Spielen nahm. In einer Pressemitteilung am 14. Februar 2007 schrieb ich: „Bei der Debatte um Gewalt in Computerspielen darf aber nicht über das Ziel hinausgeschossen werden. Erwachsene müssen das Recht haben, sich im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen auch Geschmacklosigkeiten oder Schund anzusehen bzw. entsprechende Spiele zu spielen. Die Meinungsfreiheit und die Kunstfreiheit gehören zu den im Grundgesetz verankerten Grundrechten. Die Kunstfreiheit ist nicht an die Qualität des Werkes gebunden. Kunstfreiheit gilt auch für Computerspiele.“

 

Ein Sturm der Entrüstung brach über den Deutschen Kulturrat hinein. Denn wenn die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit auch für Computerspiele gelten sollte, dann wären Computerspiele Kunstwerke, wie z. B. Filme und Popmusik. Und damit gehöre die gesamte Branche logischerweise zum Kulturbereich.

 

Doch neben der lebhaften Empörung gab es auch Unterstützung für die vorgeschlagene Erweiterung des Kunstbegriffes. Endlich wird die kulturelle Bedeutung von Computerspielen deutlich hervorgehoben, war zu hören. Es wurde Zeit, dass klargemacht wird, nicht nur in Computerspielen ist Gewalt ein wichtiges Handlungsmovens, sondern ebenso in Romanen, Filmen und der Bildenden Kunst.

 

Im Kulturbereich tobte eine heftige Diskussion. Es war damals notwendig klarzustellen, dass ebenso wenig wie die Leser des Nibelungenliedes, der Ilias, der griechischen Tragödien, der Dramen Shakespeares automatisch zu Massenmördern werden, genauso wenig laufen alle Computerspielerinnen und -spieler Amok. Und vor allem war es wichtig, deutlich zu machen, dass die Entwicklung von Computerspielen ein kreativer, in vielen Fällen ein künstlerischer Prozess ist.

 

Heute, gut zehn Jahre später, zweifelt kaum jemand mehr an, dass Computerspiele selbstverständlich Kulturgut sind. Und manche Perlen unter den Computerspielen sind sogar Kunstwerke. Der Deutsche Computerspielepreis ist längst etabliert und wird ab Herbst dieses Jahres vielleicht endlich wieder im Kulturressort der Bundesregierung angesiedelt sein. Längst wurden Ausbildungsberufe in der Computerspielebranche etabliert, findet an Hochschulen und Universitäten die akademische Ausbildung von Computerspieleentwicklern statt. Auch wenn im internationalen Vergleich wenig Nachwuchs in Deutschland für die wachsende Computerspielebranche ausgebildet wird und vielfach ein Fachkräftemangel beklagt wird. Im internationalen Kontext konkurrieren deutsche Computerspielefirmen mit japanischen, kanadischen und US-amerikanischen Entwicklern um qualifizierte Arbeitskräfte und ziehen – so die Klage der Branche – allzu oft den Kürzeren. Barrieren sind oftmals die Sprache und Visabestimmungen. Aber auch Autoren, Komponisten, Designer und andere Kulturschaffende verdienen ihre Brötchen bei Computerspieleentwicklern.

 

In den Kulturwissenschaften wird über Computerspiele, ihre historische Entwicklung, ihre Formensprache, ihre Wirkungen und anderes mehr geforscht. Computerspiele sind damit zum Gegenstand der akademischen geisteswissenschaftlichen Reflexion geworden wie es bei Filmen und der populären Musik längst der Fall ist.

 

Die Diskussion um sogenannte Killerspiele ist verebbt. Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), welche die Alterskennzeichnung für Computerspiele in Deutschland entlang der Bestimmungen des Jugendschutzes und des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags vergibt, verrichtet ihre Arbeit genauso geräuschlos wie die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). In beiden Fällen, Film und Computerspiele, hat sich die Selbstkontrolle durch die Branche bewährt. Mehr und mehr wird der Mehrwert von Computerspielen in der Aus- und Weiterbildung, in der Rehabilitation und in vielen anderen Bereichen entdeckt.

 

Die pickligen pubertierenden Jungs, so beschrieben die Medien gerne die Computerspieler der ersten Jahre, sind längst erwachsen geworden. Sie spielen immer noch, allein, mit Freunden oder auch der Familie. Auch Mädchen und Frauen haben Computerspiele inzwischen erfolgreich für sich entdeckt. Und dass die diesjährige gamescom, die weltweit größte Messe für interaktive Unterhaltungselektronik, von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet wurde, zeigt, in welcher Liga Computerspieleentwickler und -publisher inzwischen spielen. Es geht um einen wirtschaftlich bedeutenden Markt, der nach wie vor zu den Wachstumsbranchen zählt. Die Bundeskanzlerin unterstrich neben der Bedeutung von Computerspielen als Innovationsmotor und Wirtschaftsfaktor auch ihren Status als Kulturgut.

 

Auf den ersten Blick scheint in Sachen Computerspiele „alles in Butter“ zu sein. Die leidige Debatte um „Killerspiele“ ist ausgestanden, der Deutsche Computerspielepreis ist etabliert und in Berlin finden anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Computerspielemuseums ein Kongress und eine Ausstellung statt, in denen sich explizit dem Kulturgut Computerspiele gewidmet wird.

 

Diese positiven Entwicklungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor Deutschland vor allem ein Absatzmarkt für Computerspiele und weniger ein Entwicklungsmarkt ist. Trotz aller Erfolge einzelner deutscher Unternehmen kann Deutschland sein Potenzial und seinen großen Markt noch nicht richtig ausspielen. Der Branchenverband BIU forderte daher anlässlich der gamescom, Computerspiele stärker zu fördern. Auch mit Blick auf die Ausbildung für die Branche besteht noch großer Handlungsbedarf. Das gilt einerseits für die Unternehmen selbst, die im Rahmen des Dualen Ausbildungssystems ihren Nachwuchs selbst ausbilden können. Andererseits aber auch für Hochschulen und Universitäten, die größere Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stellen könnten. Aber auch in der Forschung zu Computerspielen bestehen noch zahlreiche Lücken, die zu füllen künftige Generationen an jungen Wissenschaftlern beschäftigen werden.

 

Den größten Nachholbedarf des Computerspielebereiches gegenüber den anderen Kulturbereichen sehe ich aber im fehlenden künstlerischen Selbstverständnis. Fast jeder am Filmset fühlt sich als Künstler, die Schauspieler, die Drehbuchschreiber, die Regisseure, die Beleuchter, die… Die Macher des Kulturgutes Computerspiele sehen sich nur in wenigen Ausnahmefällen als Künstler. Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass die Gesellschaft den Computerspielebereich heute viel selbstverständlicher als Teil der Kultur wahrnimmt, als der Bereich sich selbst. Traut Euch endlich, Künstlersein tut nicht weh!

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2017.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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