In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Publikumsorganisationen aufgelöst bzw. gleichgeschaltet – Vereine für Bildung und Kultur waren den Nazis ein Dorn im Auge. Nach dem Krieg begann für die wiedergegründeten Vereine und Verbände eine goldene Zeit: Die Menschen waren hungrig nach Kultur – die Vereine übernahmen große Teile des Ticketgeschäfts und wuchsen teilweise zu regelrechten Massenorganisationen heran. Die Münchner Theatergemeinde beispielsweise organisierte das Kulturleben von bis zu 60.000 Menschen, zeitweilig wurde sogar ein Aufnahmestopp verhängt, weil man nicht mehr genug Tickets hatte, um die Nachfrage zu befriedigen. Besonders große Theatergemeinden entstanden außerdem in den Metropolregionen Berlin und Köln–Bonn, später auch in Hamburg.
Dieser Blick auf die Geschichte macht deutlich: Es gibt so viele Auffassungen, was eine Theatergemeinde ist oder zu sein hat, wie es Theatergemeinden gibt: Jede ist an ihrem Ort individuell und im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten gewachsen und gereift, jeweils angepasst an die Kulturlandschaft in ihrem Umfeld. Und die ist im Ruhrgebiet schon auf den ersten Blick gänzlich anders als in Ludwigshafen und dort wieder anders als in Berlin oder in Cottbus. Theatergemeinden organisieren sich deshalb niemals nach einem vorgegebenen Standardmodell, sondern spiegeln immer auch ihre Stadt und
deren Kulturgeschichte wider.
Aufbruchstimmung und Konzentration auf Bildung, Inhalte und Service
Heute ist durch das Internet auch für die Theatergemeinden die Welt eine andere geworden. Niemand braucht mehr einen Verein, nur um ein Ticket zu kaufen. Die Spielstätten unterhalten eigene Apparate zum Ticketverkauf, so gut wie alles ist online buchbar. Hier müssen die Theatergemeinden natürlich mithalten. Zusätzlich konzentrieren sich die Theatergemeinden – neben dem natürlich auch weiterhin wichtigen Rabatt beim Eintrittspreis – wieder verstärkt auf ihren ursprünglichen Zweck: Bildung, Vermittlung von Kulturinhalten sowie ein besonders umfangreicher Service. Was heißt das in der Praxis? – Dass man dem Publikum besondere Angebote macht, die nur im gemeinnützigen Kontext erstellt werden können. Das können übergreifende Jahres- und Monatsvorschauen sein, die Kuration von Abo-Reihen, Kultur-Aufrufen, Werkeinführungen und Diskussionsveranstaltungen, persönliche Beratung, die Förderung von integrativen Projekten und Initiativen und vieles mehr. Ein paar Beispiele: Die Theatergemeinde Bonn organisiert Theaterfahrten für kleinere Umland-Gemeinden zu den Bühnen der Stadt, in anderen Städten gibt es Hilfe für Senioren oder sogar Single-Treffs und Angebote zum Erleben von Kultur in Gemeinschaft. Die Theatergemeinde metropole ruhr bietet Kinderbetreuung während der Vorstellungen an, die Theatergemeinden Berlin und Köln verleihen Preise für Künstler, die Theatergemeinde Hamburg bietet exklusiven Zugang zur Elbphilharmonie, die Theatergemeinde Ingolstadt kämpft öffentlich für die Sanierung „ihres“ Stadttheaters, die Theatergemeinde München lud 2013 zur Kultur-Debatte mit den Oberbürgermeister-Kandidaten im Kommunalwahlkampf. – So werden Theatergemeinden wieder wahrgenommen und profilieren sich als moderne Plattformen für Kulturleben und Kulturdiskurs.
Bei der Frage, an welche Altersgruppe man sich richten will, gibt es unterschiedliche Antworten. In aller Regel sind Erwachsene im Alter von über 30 Jahren die Hauptzielgruppe der Theatergemeinden. Das hat auch damit zu tun, dass Jugendliche und Studenten in vielen Städten mittlerweile so sehr preisgünstig in die Veranstaltungen kommen können, dass die Theatergemeinden mit ihren Rabatten nicht mithalten können. Gleichwohl gibt es vielerorts Jugendgruppen (Bonn), Schultheaterwochen und Schultheaterfestivals (Mönchengladbach) oder spezielle Familien-Abos (Hamburg, München). Denn Nachwuchspflege ist immer sinnvoll – sie richtet sich nach den örtlichen Möglichkeiten.
So kann man seit einigen Jahren einen regelrechten neuen Aufbruch bei den Theatergemeinden beobachten, die sich den Herausforderungen der neuen Zeit stellen. Sie haben erkannt, dass man sich offensiv darstellen muss, um sich in der Fülle der Angebote des Kulturlebens und seiner Vermarktung behaupten zu können. So wie in Deutschland das Ehrenamt wieder positiv neu bewertet wird, so wird auch der kulturellen Bildung endlich wieder verstärkt die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht. So beweisen sich auch die Theatergemeinden mehr denn je als gemeinnützige, am Inhalt und nicht am Gewinn orientierte Kulturinstitutionen und finden damit neues Interesse.
Das hat auch der aus 29 Bundeskulturverbänden bestehende Rat für darstellende Kunst und Tanz im Deutschen Kulturrat erkannt, der Ende 2016 eine Resolution zur Stärkung von Publikumsorganisationen in der deutschen Kulturlandschaft auf den Weg brachte. In dieser heißt es unter anderem: „Sie sind dem Gemeinwohl verpflichtet und vermitteln zwischen Kulturinstitutionen und Publikum. Sie bieten zahlreiche Zusatz- und Begleitangebote an, um einerseits für die Bühnen Publikum heranzubilden und zu verstetigen, und um andererseits für die Nutzer von kulturellen Angeboten Service und Komfort zu steigern.“ Der Rat kommt zu dem Ergebnis: „Publikumsorganisationen fördern somit die Kultur und erfüllen einen kulturellen Bildungsauftrag. Ihre Rolle ist umso wichtiger, je mehr kulturelle Einrichtungen und Anbieter Sparzwängen und Verwertungsdiktaten unterworfen sind.“
Auf diese Weise erneuern die Theatergemeinden Stück für Stück die Begründung für ihre Existenz. Und erreichen wieder eine noch stärkere Rolle im Blickfeld des Publikums. Denn die Frage „Warum gibt es uns eigentlich und was ist unsere wirkliche Aufgabe?“ muss sich heute jeder Akteur in der Kultur, aber auch in der kulturellen Bildung stellen. Die Theatergemeinden haben auf diese Fragen neue Antworten.
Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im April 2018.