Tanzvermittlung in der (post-)digitalen Gesellschaft

Digitale Medien, körperliche Bewegung und Choreographie

Medien konstruieren Wirklichkeiten. Mittels Medien werden Realitäten wahrgenommen, so wie Realitäten durch Medieneinsatz gleichzeitig konstituiert werden (Luhmann 2004). Unter dieser Perspektive beleuchtet der Beitrag die Relevanz digitaler Medien für den Tanz(unterricht) und lotet die Beziehung von Körper, Bewegung und Medien aus, um daran anschließend Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien im Tanzunterricht vorzustellen.

 

Kennzeichen einer digitalen Gesellschaft – zu nennen sind hier exemplarisch die Indikatoren Hypermobilität, Hyperlokalität und Vernetzung – beruhen auf einer engen Beziehung von individuellen Bewegungsmustern und Kommunikationsverhalten menschlicher Körper. Als zentrales Werkzeug digitaler mobiler Gesellschaften fungiert das ‘smarte’ Mobiltelefon, das als ständiger Begleiter Bewegungen aufzeichnet, den Körper vermisst und über Bewegungsprofile in einer Alltagswelt verortet, die von digitalen Strukturen, Verfahrensweisen und Praktiken durchdrungen ist. Versteht man die digitale Gesellschaft somit als permanent mobile Gesellschaft, dann kommt der Vermittlung von Wissen mit, über und in Bewegung eine zentrale Rolle zu. Mit Blick auf jüngste technologische Entwicklungen geht der US-amerikanische Choreograph Sydney Skybetter (TEDx TALK „The Choreography of the Internet of Things“, 10.6.16) so weit, choreographisches Wissen und dessen Vermittlung als maßgebliche (Schlüssel-)Kompetenz im Umgang mit Robotik und Virtual Reality zu markieren.

 

Weiteren Anschluss für das Thema Tanzunterricht im Kontext (post-)digitaler Gesellschaft bietet zum einen die Annahme, dass Tanzunterricht und Tanzpädagogikausbildung keine medienfreien, allein auf unmittelbarer Erfahrung basierenden Felder sind. Zum anderen wird als Ziel von Tanzunterricht neben der Erprobung von Bewegungsvielfalt, der Entwicklung von Körperbewusstsein und Gestaltungsfähigkeit, der Reflexion von Normen und Körperbildern, die durch Bewegungen und Gesten konstituiert werden und der Herausbildung eigenen künstlerischen Handelns (Klinge 2012) auch die Kompetenz zur analytischen Beobachtung von Bewegungsmustern, Bewegungsabläufen und Bewegungsordnungen verstanden. So wie Bewegungsordnungen immer an ein Wissen von Körpern in Bewegung und an das Wissen der sich bewegenden Körper gebunden sind, konstituieren und reflektieren Choreographien das Wissen um die Ordnung von Körpern in Bewegung (Alkemeyer et al. 2009).

 

Bestandsaufnahme

Im (post-)digitalen Zeitalter hat die Erweiterung von Tanz durch Videotanz, digital generierten Tanz und virtuelle Tanzproduktionen (z.B. in der virtuellen Welt SECOND LIFE) längst stattgefunden.

 

Entfernt voneinander liegende Aufführungsorte können mithilfe von Übertragungstechnologien verbunden sowie auch neue virtuelle Räume zur Produktion und Rezeption von virtuellen Tanzperformances generiert werden. Soziale Netzwerke wie FACEBOOK, YOUTUBE, INSTAGRAM, SNAPCHAT und VIMEO bieten Plattformen, um interaktiv mit anderen Interessierten tänzerisch zu agieren. Die Technologien des Web 2.0 haben Community-Strukturen ermöglicht, die den konventionellen Prozess von Produktion, Distribution und Rezeption zugunsten kreativer Kollaboration mit dem Einbezug von User-Generated-Content erweitern, wie z.B. die Tanzproduktion von Jess Curtis “The Dance That Documents Itself” (2014) zeigt.

 

Allerdings werden diese Möglichkeiten bisher nur äußerst zögerlich in den Tanzunterricht als Lern-, Erprobungs- und Erfahrungsfelder integriert, so wie der Themenkomplex Tanz und Digitalität als verbindlicher Lehrinhalt in Studiengängen für Tanzvermittlung, Sportpädagogik und Bewegungs-wissenschaft nur sehr langsam Eingang in Lehrpläne findet. Hier scheint weiterhin das zu gelten, was lange Zeit im Kunstbereich Tanz beobachtbar war: Die Körper- und Bewegungskunst Tanz verhält sich neuen Technologien gegenüber ambivalent.

 

Somit lässt sich auch der derzeitige Einsatz digitaler Medien im Kontext der Tanzvermittlungs-ausbildung knapp skizzieren: Im Trainingsstudio werden Handy- oder Videokamera als Speicher-medium zum Zweck der Notation, Dokumentation und Reflexion von Bewegungsabfolgen eingesetzt. Nach Möglichkeit wird in Berufsfeld-Seminaren in Video- und Tonschnitt-Programme eingeführt, in die Konzeption von Websites sowie in professionelle Vernetzung (Social Media Plattformen, Communities, Job-Börsen) Einblick gegeben. Weitergehend finden sich digitale Medien als Struktur- und Rahmengeber für künstlerische Auseinandersetzungen in Projektlaboren, die oftmals gemeinsam mit Medienkünstlern aus Kunst- und Medienhochschulen durchgeführt werden. Eine grundlegende, systematische Vorbereitung zum Einsatz digitaler Medien im Tanzunterricht findet jedoch nicht statt.

 

Konkrete Einsatzmöglichkeiten

Strukturierter, konzeptionell geleiteter Einsatz digitaler Medien im Tanzunterricht erfordert zunächst einige pragmatische Unterscheidungen auf den Ebenen von Apparatur und Technik, der konzeptionellen Vorgehensweise und den konkreten Einsatzmöglichkeiten. Zudem lassen sich im Anschluss an Dawn Stoppiello, Gründerin von Troika Ranch und Professorin für den Bereich Dance and the Digital Era an der USC Glorya Kaufman School of Dance, zwei Vorgehensweisen im Einsatz digitaler Medien im Tanz unterscheiden:

 

  1. Digitale Reflexion: Der Körper wird eingesetzt, um Medien zu manipulieren.
  2. Digitale Intervention: (Audiovisuelle) Medien werden eingesetzt, um den Körper zu manipulieren.

 

Ist die Entscheidung für die grundlegende Vorgehensweise getroffen, erfolgt die Auswahl von Apparatur und Technologie, die zum Einsatz kommen soll. Hier wird unterschieden zwischen der Hardware, zu der z.B. Geräte wie Smartphones, Videokameras, Beamer, Laptops, Vermessungsgeräte (Schrittzähler etc.), Roboter und Virtual Reality Brillen gehören, und der Software, die Formate und Anwendungen wie z.B. YouTube-Videos, Spotify-Musiklisten, Periscope Live-Video Übertragungen oder Skype Kommunikationssituationen umfasst.

Um interaktive und kollaborative Vermittlungsprozesse zu ermöglichen, wird zudem ein verändertes Machtgefüge zur Voraussetzung, dass die zuvor auf die Lehrperson konzentrierte Mediennutzung im Unterricht auf alle Teilnehmenden ausweitet. Sinnvoll durchdachten Konzepten zum Medieneinsatz im Tanzunterricht geht es nicht um die Aufhebung gemeinsamer Lernsituationen in leiblicher Nähe, sondern um die Erweiterung dieser Situation. Die explorativ angelegte Arbeit mit körperlicher Bewegung und digitalen Medien, die in Formaten wie z.B. Videotanz, Videoinstallation, multimediale Projektion, Skype-Dance-Session oder Improvisation mit (Handy-)Kamera erprobt wird, kann dabei durch Fragen wie die folgenden exemplarischen eingeleitet werden:

 

  • Wie verändert sich durch mobile Medien das eigene Bewegungsverhalten bzw. welche neuen Bewegungsgewohnheiten und Bewegungsordnungen entstehen?
  • Welche Perspektivveränderung auf die eigene Körperbewegung bringt z.B. die permanente Möglichkeit der Vermessung mit sich?
  • Wie verändert sich die Aufführung einer Choreographie, wenn das Publikum nicht körperlich anwesend, sondern medial dazu geschaltet ist?
  • Wie unterscheidet sich das Lernen von Bewegungen über Video von der Vermittlung durch einen anwesenden Körper?
  • Welche Zusammenhänge zwischen medialer und physischer Präsenz lassen sich entdecken?
  • Wie werden durch neue Medien andere Wahrnehmungs- und Bewegungsräume geschaffen?

 

Konkret lassen sich Medien u.a. zu folgenden Zwecken im Tanzunterricht einsetzen:

 

  • Dokumentation: Notation, Aufzeichnung, Konservierung, Archivierung von Bewegung
  • Reflexion: Analyse, Korrektur, Normierung von Bewegung
  • Recherche: Bewegungsstile kontextualisieren
  • Distribution, Vernetzung: mehrere (Aufführungs-)Orte simultan verschalten
  • Mediale Verfahren: Rahmung, Blicklenkung, Montage bzgl. Bewegung
  • Strukturierung: Regelwerk, Score, Inspiration für Bewegung
  • Rahmengebung: Relation Performer/Publikum, Rollenwechsel, Co-Creation

 

Plädoyer

Zeitgemäßer Tanzunterricht, der den Herausforderungen einer Gesellschaft begegnet, die durch mobile digitale Medien grundlegend strukturiert ist, erfordert die

Integration von Medienwissen und Medienpraxis in die Ausbildung von Tanzvermittelnden. Der Einsatz von Medien sollte dabei mit einem Medienverständnis verbunden werden, das mit der Bezeichnung Medien nicht nur eine technische Apparatur sowie Aufzeichnungs- und Archivierungsprozesse meint, sondern in die kulturelle Praxis auch Verfahren der Sichtbarmachung (z.B. von bestimmten Körperbildern) einbezieht. Mittels praktischer und theoretischer medienwissenschaftlicher Kompetenzvermittlung in der Tanzausbildung wird verdeutlicht, dass Tanz in jeglicher Form immer die Anwendung einer Technik bedeutet – z.B. das Abrufen einer im Körpergedächtnis abgespeicherten Tanztechnik oder einer choreographierten Bewegungsabfolge.

 

Daneben bedient sich der Tanz medialer Techniken und Technologien, um die kreativen Möglichkeiten des Körpers in Raum und Zeit zu erweitern (Evert 2003).

 

Digitale Medien bringen eigene Machtformationen mit sich, mit denen sich Tanzvermittelnde auseinandersetzen müssen. Bedingt durch die Allgegenwart digitaler Medien – ob in privater Kommunikation oder öffentlicher Videoüberwachung – verändert sich der Blick auf sich bewegende Körper, deren Bewegungsgewohnheiten und die soziale Bewegungsordnung (Klein 2012). Spezifische Techniken der Codierung sowie der Sichtbarmachung und Lesbarkeit im Produktions- und Rezeptionsprozess müssen erlernt werden – und sollten im Unterricht entsprechend auch Gegenstand sein. Im Tanzunterricht erfahren Studierende wie auch Schülerinnen und Schüler, dass Medien wie auch Bewegungen durch bestimmte Techniken Wirklichkeit produzieren. Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitskonstitution bilden einen wechselseitigen Prozess, der im Umgang mit Medien im Alltag, in künstlerischen Prozessen wie in Lernsituationen immer zusammen gedacht werden muss.

 

Die produktive Auseinandersetzung mit digitalen Medien in Form eines post-digitalen Umgangs (Negroponte 1998) bedeutet, den Körper als technisches Medium in einem Ensemble anderer Medien zu begreifen, dessen Relationen sich analysieren lassen und aus denen sich spezifische Ästhetiken ableiten lassen. Im Sinne einer medienübergreifenden Tanzvermittlung zu arbeiten, bedeutet damit, eine technikzentrierte Perspektive in dem Sinne einzunehmen, dass das Wechselspiel technischer (Körper-)Medien reflektiert und diese wie selbstverständlich in ein Ensemble der Medienpraktiken des Tanzes einbezogen werden.

 

Literaturhinweise

  • Alkemeyer, Thomas et al. (Hrsg.) (2009): Ordnung in Bewegung – Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Bielefeld: transcript.
  • Evert, Kerstin (2003): DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien
  • Würzburg: Königshausen u. Neumann.
  • Klein, Gabriele (2012): „Choreografien des Alltags. Die emergenten Ordnungen der Lebenswelt“. In C. Behrens et al. (Hrsg.), Tanzerfahrung und Welterkenntnis. Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 22, (S. 17-34). Leipzig: Henschel.
  • Klinge, Antje (2012): Ausbildung im Tanz für Kulturelle Bildung. In H. Bochorst et al. (Hrsg.), Handbuch Kulturelle Bildung (S.882-884). München: Kopaed.
  • Luhmann, Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien (3.Auflage). Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Negroponte, Nicholas (1998): Beyond Digital
  • Weber, Anna-Carolin (2011): „Dialoge zwischen Körper und Kamera“. In Medienconcret – Magazin für die pädagogische Praxis (S. 27–32).
  • Weber, A.-C. (2012): „Tanz und Medialität. Anmerkungen zum Vermittlungsverständnis einer intermedialen Tanzpraxis“. In C. Behrens et al.  (Hrsg.), Tanzerfahrung und Welterkenntnis. Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 22, (S. 108-117). Leipzig: Henschel.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Internetportal „Kultur bildet.“ des Deutschen Kulturrates im August 2017.

 

Anna-Carolin Weber
Anna-Carolin Weber ist Tanz-, Theater- & Medienwissenschaftlerin und Choreographin, Mitarbeiterin im Projekt RUB Arts & Culture International (inSTUDIESplus) an der Ruhr-Universität Bochum.
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