Keine Inklusion ohne Medien

Gesellschaftliche Teilhabe ist ohne Medien nur schwer denkbar – nicht umsonst weist die UN-Behindertenrechtskonvention Medien eine Schlüsselstellung bei der Erreichung voller und wirksamer Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft zu, wie es heißt. Diese werden dort auf drei Ebenen beschrieben.

 

  • Erstens – Bewusstseinsbildung
    Medien haben einen erheblichen Einfluss auf die soziale Inszenierung von Behinderung und damit verbundene Exklusions- oder Inklusionstendenzen. So lange unsere Gesellschaft noch nicht inklusiv ist und weiterhin Sonderinstitutionen für Menschen mit Behinderung in den verschiedenen Lebensabschnitten zuständig sind, bezieht ein Großteil der Bevölkerung sein Wissen über Behinderung in erster Linie aus den Medien und nicht aus persönlichen Kontakten.
  • Zweitens – mediale Zugänglichkeit
    Der gleichberechtigte Zugang zu Information und Kommunikation ist eine Frage der demokratischen Meinungsbildung. Gesellschaftliche Teilhabe setzt Informiertheit voraus – und damit Zugang zu Medien. Hier bieten gerade digitale Medien für Menschen mit Behinderung neue Möglichkeiten. Schließlich ermöglichen digitale Medien aktive Partizipation. Nie war es so einfach, sich selbst zu Wort zu melden und sich an Diskussionsprozessen zu beteiligen. Heute ist der Alltag von Medien durchdrungen, ein großer Teil der Kommunikation findet in und über Medien statt – eine Chance zum Beispiel für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Entscheidende Voraussetzungen, diese Chancen auch nutzen zu können, sind Barrierefreiheit und Medienkompetenz.
  • Drittens – inklusive Medienbildung
    Neben barrierefreien Zugängen ist eine entsprechende Medienkompetenz eine wichtige Voraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dazu bedarf es einer Medienbildung, welche Differenzen in den Zugängen und Nutzungsweisen berücksichtigt. Dafür müssen pädagogische Fachkräfte ausgebildet sein.

 

Mediale Darstellungsweisen – Bewusstsein bilden
Rein quantitativ ist das Thema Behinderung in den Medien inzwischen relativ häufig präsent. Das spiegelt auch die erhöhte Aufmerksamkeit wider, die die Auseinandersetzung mit Behinderung in der Gesellschaft erfährt. In den Kinos werden Filme wie „Ziemlich beste Freunde“ (Frankreich 2011)

zum Kassenschlager. Diese positiven Beispiele sind aber noch nicht die Regel. Die in der UN-Behindertenrechtskonvention postulierte Bewusstseinsbildung zielt neben der Quantität der Darstellung vor allem auf qualitative Aspekte ab. Die Umsetzung von Inklusion hängt auch davon ab, wie das Thema auf den Marktplätzen der Meinungsmacher kommuniziert wird. Aktuell folgt die Darstellung häufig noch stereotypen Mustern. Menschen mit Behinderung nehmen weiterhin eine Sonderstellung ein – sie sind das Exotische, das Ungewöhnliche, das das Publikum anziehen soll. In fiktionalen Formaten sind sie kaum zufällig zu sehen, nur selten auf selbstverständliche oder alltägliche Weise eingebunden. Von Behindertenverbänden preisgekrönte Sendungen wie der Tatort aus Münster zeigen aber, dass es möglich ist, Stereotype zu zeigen und zugleich auf humorvolle Weise zu entlarven. Zahlreiche weitere Beispiele der letzten Jahre zeigen, wie es gelingen kann, Behinderung als gesellschaftliche Normalität zu präsentieren. Dennoch sollte man, sobald jemand mit Behinderung in audiovisuellen Medien auftritt, sehr genau darauf achten, welche Funktion dieser in der Geschichte hat. Die Kulturelle Bildung leistet hier einen wichtigen Beitrag, wenn sie den Blick für Stereotype schärft und ihnen alternative Darstellungsweisen entgegensetzt.

 

Mediale Zugänglichkeit – Barrieren abbauen
Mithilfe digitaler Medien können Barrieren überwunden werden, die früher die Nutzung bestimmter Medien erschwerten: Hörgeschädigte Personen können im Internet nachlesen, was in Radiobeiträgen gesagt wird. Blinde oder stark sehbehinderte Menschen können sich mithilfe assistiver Techniken oder in Brailleschrift aktuelle Texte aus Tageszeitungen und Zeitschriften vorlesen bzw. in Punktschrift übersetzen lassen. Vorher waren sie auf Hörzeitungen und -zeitschriften sowie Punktzeitschriften angewiesen, die aus einer beschränkten Auswahl an Titeln einen kleinen Teil der Inhalte zeitversetzt zugänglich gemacht haben. Screenreader bieten heute Zugang zu allen möglichen Internetseiten.

 

Digitale Medien haben zumindest das technische Potential, die Informationen so zu präsentieren, dass jeder Mensch sie nach seinen Fähigkeiten und Vorlieben nutzen kann. Filme können mit Audiodeskriptionen für blinde bzw. sehgeschädigte Menschen oder mit Untertiteln bzw. Gebärdensprach-Versionen für hörgeschädigte Personen versehen werden. Geräteseits gibt es vielfältige Möglichkeiten der erleichterten Bedienung und assistive Technologien bieten vielen Menschen erstmals selbstbestimmten Zugang zu zahlreichen Medieninhalten. Dazu gehören zum Beispiel auch Apps, die blinden Menschen beim Kinobesuch die Audiodeskription synchron zum Film liefern.

 

Die Realität hinkt den technischen Möglichkeiten jedoch hinterher: Zu wenig Internetseiten sind wirklich barrierefrei, so dass sie von assistiven Technologien „gelesen“ werden können. Noch viel zu selten ist eine andere Hürde im Blick: die Sprache. Nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten scheitern an der komplexen Sprache vieler Internetangebote. Leichte Sprache erleichtert vor allem Menschen mit geringen sprachlichen Fähigkeiten das Verständnis von Texten. Aber es hat sich herausgestellt, dass diese Texte nicht ausschließlich von Personen mit Lernschwierigkeiten genutzt werden, sondern auch von anderen Personengruppen, die Schwierigkeiten mit komplexen Ausdrucksweisen haben. Leichte Sprache basiert auf einem internationalen Konzept und folgt klaren Regeln. Die „übersetzten“ Texte sollen von Menschen aus der Zielgruppe getestet werden, bevor sie veröffentlicht werden (www.leichtesprache.org).

 

Für viele eine Notwendigkeit, für alle ein Gewinn – so lässt sich der Nutzen von Barrierefreiheit auf den Punkt bringen. Denn nicht nur Menschen mit Behinderungen profitieren von den technischen Möglichkeiten. Untertitel sind für alle nützlich, die eine Sprache nicht ganz beherrschen. Brillenträger wissen Skalierungsmöglichkeiten am Bildschirm zu schätzen.

Ingo Bosse und Anne Haage
Ingo Bosse ist Junior-Professor im Lehrgebiet Körperliche und Motorische Entwicklung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund und Sprecher der Fachgruppe Inklusive Medienbildung der GMK. Anne Haage ist Mitarbeiterin im Lehrgebiet Körperliche und Motorische Entwicklung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund.
Vorheriger ArtikelTanzvermittlung in der (post-)digitalen Gesellschaft
Nächster ArtikelKulturelle Bildungsangebote für Kinder im Internet