Als der Kaufmann und Bankier Johann Friedrich Städel 1815 testamentarisch die Gründung einer Stiftung verfügte, die seine bedeutende Kunstsammlung aufnehmen und „zum Besten der hiesigen Stadt und Bürgerschaft“ in einem Kunstinstitut zugänglich machen sollte, legte er den Grundstein für eine der heute ältesten und renommiertesten bürgerlichen Museumsstiftungen Deutschlands: das Städel Museum. Dieser damals visionäre Stiftergedanke zum Wohle der Gesellschaft, getragen von Ideen des Humanismus, der Aufklärung und der Bildung, ist unser Anspruch und Ziel seit nunmehr 200 Jahren. Ausgehend davon erweitert sich das Städel Museum seit 2015 in den digitalen Raum und ist mit einer Vielzahl an digitalen Angeboten – von „Digitorials“ über einen Podcast bis zu einem Onlinekurs zur Kunst der Moderne – in Deutschland zur Benchmark geworden. Der Erfolg basiert dabei auf einer ebenso klaren wie aufwendigen Strategie: Wir betreiben eine vielfältige und zielgruppenspezifische Kunstvermittlung. Es geht uns darum, neue Wege der Erforschung, Darstellung, Erzählung und Vermittlung von Kunst im digitalen Raum zu etablieren. Über allem steht der Auftrag, eine räumlich und zeitlich uneingeschränkte Teilhabe an Kulturgut zu fördern.
Das Herzstück der digitalen Erweiterung bildet die Digitale Sammlung des Städel Museums – unser größtes und weitreichendstes Digitalprojekt. Sie mit einer Museumsdatenbank gleichzusetzen, wird ihr nicht gerecht. Unsere Digitale Sammlung hält vielmehr – parallel zum Erlebnis des realen Museumsbesuchs – ein digitales Erlebnis der Kunst- und Wissensvermittlung bereit, das für Nutzerinnen und Nutzer mit unterschiedlichen Interessen vielfältige Zugangsmöglichkeiten bietet. Sie ermöglicht wissenschaftliches Suchen genauso wie ein Flanieren durch die Sammlung des Städel Museums. Die Digitale Sammlung vereint neben Forschungsinhalten wie Provenienzen, Befunden zu Restaurierungen, konservatorischen Zuständen oder ehemaligen Zuschreibungen auch hochauflösende Abbildungen mit Detailzoom und multimediale, unterhaltsame Informationen in Form von Texten, Filmen und Audiotracks zu Kunstwerken.
Das zentrale Element der Digitalen Sammlung sind die Verbindungen zu anderen Werken und Themen aus verschiedenen Epochen. Auf diesem Wege wird es nicht nur möglich, etwa Werke gleicher Künstlerinnen und Künstler zu entdecken, sondern auch Werke eines gleichen Themas, einer ähnlichen Stimmung und Wirkung. Ein Beispiel: Ganz nebenbei werden Nutzerinnen und Nutzer über gemeinsame Schlagworte wie „Nachdenklichkeit“, „Geheimnis“ und „Ruhe“ vom „Bildnis des Simon George of Cornwall“ von Hans Holbeins d. J. zu Fotografien verschwundener irakischer Landschaften der Künstlerin Ursula Schulz-Dornburg geführt. Über die konkrete Suche hinaus werden assoziativ schlüssige Ergebnisse geliefert, die einen Übergang vom reinen Suchen zum inspirierenden Finden schaffen. Durch eine tiefe Verschlagwortung mit im Schnitt 80 Schlagworten pro Werk schafft die Digitale Sammlung ein exploratives Erleben der Sammlung im digitalen Raum.
Bei meinem Amtsantritt als Direktor des Städel Museums 2016 war bereits eine erste Betaversion der Digitalen Sammlung mit ca. 600 Kunstwerken online. Mein Anliegen ist es, uneingeschränkten Zugang zu den gesamten Beständen des Städel Museums zu bieten. Während wir nur ca. ein Prozent unserer über 110.000 Kunstwerke umfassenden Sammlung im Museum ausstellen können, eröffnet die Digitale Sammlung dem Publikum breitere Möglichkeiten. Und so wuchs die Digitale Sammlung über die Jahre – begleitet von einem größeren Relaunch, der viele inhaltliche Verbesserungen und die Programmierung einer mobilen Version beinhaltete – auf mittlerweile über 26.000 zugängliche Kunstwerke an.
Die Digitale Sammlung ist aus unserem Selbstverständnis als Museum erwachsen und wird durch intensive, fortwährende Arbeit und Entwicklung weiter ausgebaut. Sie ist als Ergänzung des analogen Museumserlebnisses zu verstehen. Sie macht die Schausammlung genauso öffentlich zugänglich wie unsere Depotbestände. Damit führt sie das Fundament des Museums vollständig zusammen und stellt das gesammelte Wissen von 700 Jahren Kunstgeschichte uneingeschränkt allen zur Verfügung. Nicht zuletzt deshalb war neben der englischen Version der Digitalen Sammlung 2018 die Lizenzierung von über 22.000 Kunstwerken unter Creative Commons vor wenigen Wochen ein Meilenstein. Beliebte Kunstwerke des Städel Museums können jetzt für beliebige Zwecke heruntergeladen, vervielfältigt, bearbeitet und geteilt werden. Darüber hinaus können Externe – ob Kooperationspartner, Schulen, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen oder Plattformen wie Wikipedia – über eine OAI-Schnittstelle auf sämtliche Informationen aus der Digitalen Sammlung zugreifen. Die Covid-19-Pandemie hat uns – auf drastische Art – bestätigt, welchen Mehrwert unsere digitalen Angebote bieten können, wenn ein physischer Besuch im Museum nicht möglich ist. Im April 2020, als das Museum für Wochen geschlossen war, stiegen die Zugriffe allein auf die Digitale Sammlung um das Dreifache im Vergleich zum Vorjahr und die Verweildauer verlängerte sich um fast 30 Prozent. Viele Besucherinnen und Besucher sehnten sich nach Kunst, nach gedanklicher Zerstreuung und Inspiration, wie sie uns mitteilten. Auch nach mehr als fünf Jahren der Digitalen Erweiterung des Städel Museums werde ich immer noch oft gefragt, ob die digitalen Angebote nicht die Begegnung mit dem Original ersetzen, das Publikum gar davon abhalten, selbst ins Museum zu kommen. Dabei ist es doch gerade umgekehrt, unsere digitalen Angebote ermöglichen eine Begegnung mit Kunst oft erst und führen eine breite Öffentlichkeit an kunst- und kulturhistorisches Wissen heran. Und wer mehr über ein Kunstwerk weiß, sucht schließlich auch die Begegnung mit dem Original.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.