Digitale Kultur als UNESCO-Kulturerbe

Demoszene bahnt den Weg

Die Akzeptanz als immaterielles UNESCO-Kulturerbe kann eine Vielzahl an Räumen öffnen: So stellen sich Demoszenerinnen und -szener Fragen, welchen Einfluss eine solche „institutionelle Behandlung“ der eigenen Subkultur nach sich ziehen kann, welchen Einfluss das auf tradierte Verhaltensweisen einer ehemaligen Jugendkultur hat und welche Chancen gleichzeitig darin bestehen, die eigene Wirkmächtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren, um daraus neue Perspektiven für die Weiterentwicklung und den Fortbestand der Kultur zu gewinnen. Ganz konkret wird gefragt: Welche Positionen ergeben sich zur Geschichtlichkeit, zu Aufbewahrung und Weiterentwicklung der Szene? Welche zu Soziodynamiken einer überwiegend männlich dominierten Historie der Szene? Wie verändert sich dieses historisch? Und wie können diese Erkenntnisse auf andere digitalen Kulturen übertragen werden? Welche Fragen können wir zur Funktionsweise digitaler Communities zwischen Gemeinschaft, Anonymität und Wettbewerb generieren? Und wie veränderten sich diese über die Zeit? Welche Rolle spielt soziale Offenheit und Performanz? Aber auch; welche Dialog- und Kollaborationsmöglichkeiten, welche Einflussnahmen ergeben sich, wenn digitale Kultur im Institutionenkanon ernstgenommen wird?

 

Die digitalen Medien sind zwar alles andere als neu, aber dennoch ist es jetzt richtig, die traditionellen mit den digitalen Sparten zusammenzubringen. Und wenn man auf die Geschichte der Demoszene oder verwandter Kulturen wie der Hacker-, Open-Source-Software-Community oder der Game-Szene schaut, gibt es Dekaden von Explorationen beiderseitiger Neugier und kreativer sowie technischer Kollaboration, im Wesentlichen aber bisher Koexistenz und Abgrenzung mit vielen Berührungsängsten und kulturellen Missverständnissen.

 

Insbesondere hier ergeben sich mit der Anerkennung von digitaler Kultur als Kulturerbe enorme Chancen, eine neue Phase in den vermeintlichen Dichotomien von digitaler und physisch geprägter Kultur einzuleiten. Es ist Zeit, gemeinsam zu explorieren, welche neuen Perspektiven sich ergeben, wenn digitale Kultur und Kreativität ganz selbstverständlich als Teil des Kanons der verschiedenen Kulturpraktiken, Sparten und Künste gesehen werden. „Art of Coding“ möchte mithelfen, die für diesen Dialog notwendigen Grundstrukturen digitaler Kultur zu entwickeln, so dass digitale Kultur als Kultursparte wie Oper, Tanz oder Musik anerkannt und mit entsprechenden Ressourcen und Institutionen ausgestattet wird.

 

Und nicht zuletzt geht es auf dritter Ebene um Fragen von Schnittstellen und Übersetzungsleistungen zwischen den traditionellen Formen des als Kultur verstandenen Handelns und den digital geprägten Formen der Vergemeinschaftung und Identitätsbildung. Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die sich nicht darin erschöpft in Dichotomien von alt und neu, physisch oder digital, institutionell gefördert oder nicht zu denken, sondern im Hinblick auf die Zukunft der Vergemeinschaftung einen erwachsenen, besonnenen und auf die Chancen und Herausforderungen ausgerichteten Diskurs zu führen, der die Berührungsängste der Vergangenheit hinter sich lässt und einen entspannten Weg der Gemeinsamkeit und gemeinsamen Betroffenheit durch das Digitale weist.

 

Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Kulturpolitik an Relevanz verliert und weiter ins Hintertreffen gegenüber den Lebenswirklichkeiten des heutig Pan-digitalen gerät. Nach Dekaden der Entstehung digitaler Communities wie der Demoszene, der Entwicklung von Games als dominierendem Interaktionsort der Medienkultur, nach der Herausbildung von E-Sports sowie langfristig gelebten Ethiken und Praktiken digitaler Provenienz wie in den Ausprägungen der Hackerkultur: Jetzt geht es darum, die institutionellen und politischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich aus der Anerkennung von digitaler Kultur auf Augenhöhe ergeben, um die Spielorte kreativer und sozialer Lebenswelt abzubilden.

 

Die Demoszene hat dafür den Weg gewiesen, ist sie doch seit mehr als 30 Jahren ein paradigmatischer Vorreiter der digitalen Kultur. 30 Jahre, denen im physischen Diskurs durch die schnelle Entwicklung der IT-Technologie das Äquivalent von 300 oder sogar 3.000 Jahren Veränderung entsprechen würden. Ende des Jahres ist nun die deutsche Expertenkommission am Zug, ein besseres gegenseitiges Verständnis durch die Aufnahme der Demoszene als deutsches Kulturerbe zu ermöglichen. Es bleibt spannend.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Tobias Kopka & Andreas Lange
Tobias Kopka ist Festival-Direktor bei Ludicious Zürich Game Festival und Head of Community Relations bei Reboot Develop. Er ist seit 30 Jahren Teil der Demoszene, unter anderem Gründungsmitglied von Digitale Kultur e.V. und Co-Initiator von #ArtOfCoding. Andreas Lange ist Geschäftsführer des Europäischen Verbandes der Computerspielarchive, -museen und Bewahrungsprojekte (EFGAMP e.V.) und Gründungsdirektor des Computerspielemuseums in Berlin, für das er bis 2018 als Kurator tätig war.
Vorheriger Artikel„Kunstwerke für die digitale Welt sind ephemer“
Nächster Artikel„Gemeinsames Musizieren im Online-Unterricht ist derzeit noch eine Illusion“