Digitale Kultur als UNESCO-Kulturerbe

Demoszene bahnt den Weg

Das Frühjahr begann mit einem Paukenschlag. Erstmalig hat die UNESCO eine digitale Kultur auf die Listen des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, zu einem Zeitpunkt, an dem uns die Corona-Pandemie wie unter einem Brennglas auf die kulturelle Relevanz virtueller Realitäten aufmerksam macht. Während diese bisher vor allen denen bewusst ist, die mit der populärsten Form digitaler Kultur, den Computerspielen, vertraut sind, werden in Zeiten von Kontaktbeschränkungen IT-gestützte Räume auch für breite Bevölkerungsschichten immer mehr zu Lebensbereichen des Austauschs.

 

Je mehr die digitalen Möglichkeiten von Kulturtreibenden und -verantwortlichen als Chance begriffen werden, jenseits von lokalen physikalischen Räumen kulturell zu wirken, wird die Frage dringlicher, wie die Integration dieser neuen kulturellen Plattformen und Schaffensweisen mit unserer traditionellen Kulturlandschaft in einer der Gesellschaft förderlichen Weise gelingen kann. Dabei besteht der erste Schritt darin, die Mechanismen und Wirkungsweisen digitaler Kulturproduktion zu verstehen, wozu es jedoch unabdingbar ist, digitale Kultur nicht als einen bloßen Ersatz analoger Kultur zu begreifen und ihr so implizit den Status von Echtheit und Originalität abzusprechen. Vielmehr macht es Sinn, sich der über ein halbes Jahrhundert andauernden Produktion originär digitaler Kultur unvoreingenommen und systematisch zu widmen, um so ihr Verständnis zu erhöhen und Chancen und Risiken besser abschätzen zu können.

 

Dabei bieten sich als Messlatte und Orientierungshilfen die Definitionen der UNESCO an, die den Hintergrund der Weltkulturerbelisten bilden. Repräsentieren diese doch einerseits die globale Vielfalt kulturellen Schaffens und versuchen andererseits für alle gültige Kriterien des Umgangs und Verständnisses festzulegen. Insbesondere eignet sich der Bereich des immateriellen Kulturerbes, da hier keine physikalischen Objekte im Mittelpunkt stehen‚ sondern „lebendige“ Kulturpraktiken gefasst werden, denen immer wieder aufs Neue von den Kulturtreibenden durch gelebte Praxis Ausdruck verliehen wird. Denn dieses Verständnis trifft den Kern digitaler Kultur, der die Dichotomie von Original und Kopie wesensfremd ist und die vor allem prozessual ist, ob in Form von Interaktionen mit menschlichen Nutzern oder im Zusammenspiel von Algorithmen und Daten.

 

Diese Überlegungen bilden den Hintergrund der „Art of Coding“-Initiative, die im Mai 2019 von den Autoren mit dem Ziel initiiert wurde, mit der Demoszene eine der beständigsten originär digitalen Kulturpraktiken in das UNESCO-Verzeichnis der immateriellen Kultur aufnehmen zu lassen. Zum ersten Mal wird unser an traditioneller Kultur geronnenes Kulturverständnis auf globalem Niveau mit den Produktions-, Rezeptions- und Interaktionsweisen digitaler Kultur konfrontiert.

 

Die Demoszene ist „eine international agierende, dezentral organisierte und nichtkommerzielle digitale Kultur, die sich der Produktion von digitalen audiovisuellen Werken verschrieben hat, die als Demos bezeichnet werden“ – so wird sie im Deutschen UNESCO-Antrag vom Verein Digitale Kultur beschrieben. Demos sind „mehrere Minuten lange, durch Software generierte Animationssequenzen, die sich in jeweils spezifischen Kombinationen aus anderen Werkkategorien wie Musik, Text-, Pixel- und 3D-Grafik und Videos zusammensetzen. Ziel ist es, die eigenen Demos im Wettbewerb mit anderen auf einer der ›Demopartys‹ genannten Szeneevents live aufzuführen“ heißt es weiter.

 

Nachdem die Demoszene im April 2020 erfolgreich von Finnland in das nationale UNESCO Verzeichnis aufgenommen und in Deutschland zur Aufnahme durch das Bundesland Nordrhein-Westfalen nominiert wurde, geht es jetzt darum, weitere Erkenntnisse aus dem transnationalen Antragsverfahren zu gewinnen, die zur Entwicklung einer gemeinschaftsfördernden zeitgenössischen Kulturpraxis beitragen. Dabei richtet sich unser Blick zunehmend von der Beförderung des allgemeinen Bewusstseins über die kulturelle Relevanz digitaler Kultur auf die digitalen Kulturtreibenden selbst. Denn auch für sie stellen sich Fragen von Gemeinschaft, Tradierung und Identitätsreferenzen gerade unter den coronabedingten Kontaktbeschränkungen in verstärktem Maße. Das gemeinsame Kultur-Erleben wird zwar derzeit kreativ digital ausgelebt, steht aber gleichzeitig auch unter Druck, denn physische Zusammenkünfte sind grundlegender Bestandteil auch des digitalen Kulturlebens.

 

Die Demoszene ist ein paradigmatischer Vorreiter dafür, wie in einer Kultur selbstverständlich digitale und physische Komponenten untrennbar das gemeinsame Kultur-Leben und -Erleben ausmachen, was insbesondere deutlich wird, wenn die zentralen Zusammenkünfte der Szene, die sogenannten Demoparties nicht stattfinden können. Denn auch für eine genuin digitale Kulturform sind die physischen Zusammenkünfte wesentlicher Bestandteil der Entstehung und des Weiterbestands.
Für die Mitglieder der Demoszene stehen bei der Anerkennung als Kulturerbe vier Elemente im Vordergrund: die Darstellung und Anerkennung des eigenen Schaffens, die Tradierung und Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten und Methoden, die Bewahrung des eigenen Kulturerbes und die Weiterentwicklung der Community, insbesondere der Einbindung von Nachwuchs. Da es sich um eine dezentrale, nichtkommerzielle und emergente Kulturform handelt, bedeutet das, dass keine Hierarchien genutzt werden können, sondern die Initiativen in Prozessen kultureller Verhandlung innerhalb der Szene stattfinden, und je nach regionaler Dynamik und aktiven Führungsfiguren innerhalb der Szene unterschiedlich ablaufen.

Die Akzeptanz als immaterielles UNESCO-Kulturerbe kann eine Vielzahl an Räumen öffnen: So stellen sich Demoszenerinnen und -szener Fragen, welchen Einfluss eine solche „institutionelle Behandlung“ der eigenen Subkultur nach sich ziehen kann, welchen Einfluss das auf tradierte Verhaltensweisen einer ehemaligen Jugendkultur hat und welche Chancen gleichzeitig darin bestehen, die eigene Wirkmächtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren, um daraus neue Perspektiven für die Weiterentwicklung und den Fortbestand der Kultur zu gewinnen. Ganz konkret wird gefragt: Welche Positionen ergeben sich zur Geschichtlichkeit, zu Aufbewahrung und Weiterentwicklung der Szene? Welche zu Soziodynamiken einer überwiegend männlich dominierten Historie der Szene? Wie verändert sich dieses historisch? Und wie können diese Erkenntnisse auf andere digitalen Kulturen übertragen werden? Welche Fragen können wir zur Funktionsweise digitaler Communities zwischen Gemeinschaft, Anonymität und Wettbewerb generieren? Und wie veränderten sich diese über die Zeit? Welche Rolle spielt soziale Offenheit und Performanz? Aber auch; welche Dialog- und Kollaborationsmöglichkeiten, welche Einflussnahmen ergeben sich, wenn digitale Kultur im Institutionenkanon ernstgenommen wird?

 

Die digitalen Medien sind zwar alles andere als neu, aber dennoch ist es jetzt richtig, die traditionellen mit den digitalen Sparten zusammenzubringen. Und wenn man auf die Geschichte der Demoszene oder verwandter Kulturen wie der Hacker-, Open-Source-Software-Community oder der Game-Szene schaut, gibt es Dekaden von Explorationen beiderseitiger Neugier und kreativer sowie technischer Kollaboration, im Wesentlichen aber bisher Koexistenz und Abgrenzung mit vielen Berührungsängsten und kulturellen Missverständnissen.

 

Insbesondere hier ergeben sich mit der Anerkennung von digitaler Kultur als Kulturerbe enorme Chancen, eine neue Phase in den vermeintlichen Dichotomien von digitaler und physisch geprägter Kultur einzuleiten. Es ist Zeit, gemeinsam zu explorieren, welche neuen Perspektiven sich ergeben, wenn digitale Kultur und Kreativität ganz selbstverständlich als Teil des Kanons der verschiedenen Kulturpraktiken, Sparten und Künste gesehen werden. „Art of Coding“ möchte mithelfen, die für diesen Dialog notwendigen Grundstrukturen digitaler Kultur zu entwickeln, so dass digitale Kultur als Kultursparte wie Oper, Tanz oder Musik anerkannt und mit entsprechenden Ressourcen und Institutionen ausgestattet wird.

 

Und nicht zuletzt geht es auf dritter Ebene um Fragen von Schnittstellen und Übersetzungsleistungen zwischen den traditionellen Formen des als Kultur verstandenen Handelns und den digital geprägten Formen der Vergemeinschaftung und Identitätsbildung. Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die sich nicht darin erschöpft in Dichotomien von alt und neu, physisch oder digital, institutionell gefördert oder nicht zu denken, sondern im Hinblick auf die Zukunft der Vergemeinschaftung einen erwachsenen, besonnenen und auf die Chancen und Herausforderungen ausgerichteten Diskurs zu führen, der die Berührungsängste der Vergangenheit hinter sich lässt und einen entspannten Weg der Gemeinsamkeit und gemeinsamen Betroffenheit durch das Digitale weist.

 

Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Kulturpolitik an Relevanz verliert und weiter ins Hintertreffen gegenüber den Lebenswirklichkeiten des heutig Pan-digitalen gerät. Nach Dekaden der Entstehung digitaler Communities wie der Demoszene, der Entwicklung von Games als dominierendem Interaktionsort der Medienkultur, nach der Herausbildung von E-Sports sowie langfristig gelebten Ethiken und Praktiken digitaler Provenienz wie in den Ausprägungen der Hackerkultur: Jetzt geht es darum, die institutionellen und politischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich aus der Anerkennung von digitaler Kultur auf Augenhöhe ergeben, um die Spielorte kreativer und sozialer Lebenswelt abzubilden.

 

Die Demoszene hat dafür den Weg gewiesen, ist sie doch seit mehr als 30 Jahren ein paradigmatischer Vorreiter der digitalen Kultur. 30 Jahre, denen im physischen Diskurs durch die schnelle Entwicklung der IT-Technologie das Äquivalent von 300 oder sogar 3.000 Jahren Veränderung entsprechen würden. Ende des Jahres ist nun die deutsche Expertenkommission am Zug, ein besseres gegenseitiges Verständnis durch die Aufnahme der Demoszene als deutsches Kulturerbe zu ermöglichen. Es bleibt spannend.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2020.

Tobias Kopka & Andreas Lange
Tobias Kopka ist Festival-Direktor bei Ludicious Zürich Game Festival und Head of Community Relations bei Reboot Develop. Er ist seit 30 Jahren Teil der Demoszene, unter anderem Gründungsmitglied von Digitale Kultur e.V. und Co-Initiator von #ArtOfCoding. Andreas Lange ist Geschäftsführer des Europäischen Verbandes der Computerspielarchive, -museen und Bewahrungsprojekte (EFGAMP e.V.) und Gründungsdirektor des Computerspielemuseums in Berlin, für das er bis 2018 als Kurator tätig war.
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