Die europäische Stadt

Zwischen Geschichte und Utopie

Prägend für die bürgerliche Gesellschaft ist die Polarität einer öffentlichen Sphäre von Markt und Politik und einer geschützten privaten Sphäre von Intimität, Emotionalität und Körperlichkeit. Diese Polarität bestimmt als Polarität öffentlicher und privater Räume die räumliche Struktur der europäischen Stadt und ein entsprechend polarisiertes Verhalten des Städters. Die traditionelle islamische Stadt z. B. kennt keine Polarität öffentlicher und privater Räume. Keimzelle der islamischen Stadt ist zwar das private Haus, doch fehlt das Gegenüber des öffentlichen Raums. Deshalb bleibt der Stadtbewohner eingebunden in die Kontrollen von Sippe und religiöser Gemeinde. Die Polarität privater und öffentlicher Räume schwächt die soziale Kontrolle, denn sie erlaubt es einem jeden, selber darüber zu entscheiden, welcher Ausschnitt der eigenen Persönlichkeit sichtbar wird und was vor anderen verborgen bleibt.

 

Mit der modernen Großstadt, die sich im Verlauf der industriellen Urbanisierung herausbildet, ist eine dritte Voraussetzung für die soziale Emanzipation des Individuums gegeben. Gerade das, was die konservative Kritik an der Großstadt kritisiert, ihre Anonymität, ist Bedingung von Individualisierung: Weil einen in der großen Stadt niemand kennt, kann man hoffen, sein Leben mit dem Umzug in eine fremde Stadt oder auch nur mit dem Wechsel in einen anderen Stadtteil neu zu beginnen, eben weil man dort auf niemanden trifft, der einen auf die alte Identität verpflichten könnte. In jedem neuen Kontakt kann man versuchen, sich selber neu zu definieren. Die sich auch räumlich manifestierende Polarität einer öffentlichen und einer privaten Sphäre sowie die Unübersichtlichkeit und Anonymität der großen Stadt verhindern ein festes und lückenloses Sozialsystem, innerhalb dessen die Beziehungen unter den Individuen vordefiniert sind und in dem jeder alles von jedem weiß. Die europäische Stadt als Ort der politischen, ökonomischen und sozialen Emanzipation des bürgerlichen Individuums ist das zweite Element der europäischen Stadt.

 

Der wechselseitige Zusammenhang von Stadt und bürgerlicher Gesellschaft ist noch für ein drittes Merkmal der europäischen Stadt verantwortlich: Europäische Städte sind Orte steingewordener Erinnerung. Das hängt nicht nur mit ihrem Alter zusammen – anderswo gibt es sehr viel ältere Städte –, auch nicht mit der physischen Widerständigkeit ihrer Bausubstanz. Die andauernde Präsenz der Zeugnisse vergangener Epochen im Alltag des Städters hat vielmehr gesellschaftliche Gründe: Die europäische Stadt ist der Ort, an dem die moderne Gesellschaft entstanden ist. Im Gang durch eine europäische Stadt kann der Bürger der heutigen Gesellschaft sich seiner eigenen Geschichte vergewissern. Deshalb gibt es eine ökonomisch und politisch einflussreiche Schicht, die sich im Interesse der Wahrung ihrer eigenen historisch vermittelten Identität für die Bewahrung der historischen Substanz der europäischen Stadt einsetzt. Die Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters ist ein drittes Element der europäischen Stadt.

 

Die Stadt als demokratisch verfasstes Subjekt hat im Verlauf der Geschichte ihre Autonomie weitgehend verloren. Die freien Reichsstädte waren staatsähnliche Gebilde, doch auch eingebunden in das Reich. Die Stein-Hardenbergischen Reformen knüpften an diese Tradition an, und die kommunale Selbstverwaltung hat mit Art. 28 GG Verfassungsrang. Aber angesichts der Misere der Kommunalfinanzen, der zunehmend dichteren politischen Vorgaben von Bund und Ländern und der Erosion ihrer politischen Basis – unter anderem abzulesen an sinkender und hoch selektiver Beteiligung an Kommunalwahlen – droht die kommunale Selbstverwaltung zur leeren Hülse zu werden. Die wachsende Spaltung der Stadtgesellschaft und zunehmende soziale Ausgrenzung sind eine harte Verneinung der Stadt als Ort der Hoffnung auf ökonomische, politische und soziale Emanzipation. Die gebauten Zeugnisse der Geschichte sind durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs weitgehend vernichtet worden, und sie werden weiterhin im Zuge einer „zweiten Stadtzerstörung“ beseitigt durch rücksichtslose Investoren und Sanierungspolitiken. Die Politik könnte diesen Tendenzen einer Erosion der europäischen Stadt gegensteuern:

  • durch eine Finanzreform, die die Kommunen auch unter Bedingungen des Schrumpfens handlungsfähig hält;
  • durch eine Stärkung der Kompetenzen der kommunalen Selbstverwaltung;
  • durch eine Integrationspolitik, die sich bewusst ist, dass die Integration von Zuwanderern nur ein besonders sichtbarer Aspekt des allgemeinen Problems einer Integration der Stadtgesellschaft darstellt;
  • durch eine Politik, die die Balance findet zwischen Bewahrung des historischen Gedächtnisses der Stadt und den Anforderungen der Gegenwart, ohne künftige Entwicklungsmöglichkeiten zu verbauen.

 

Ohne eine solche Politik bliebe das Leitbild der europäischen Stadt nur eine rückwärtsgewandte Utopie.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Walter Siebel
Walter Siebel ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist Autor der Bücher „Die europäische Stadt“ und „Die Kultur der Stadt“.
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