Die europäische Stadt

Zwischen Geschichte und Utopie

Die europäische Stadt ist populär, auch in der Politik: „Ausgangspunkt und Leitvorstellung aller stadtentwicklungspolitischen Maßnahmen und Aktivitäten des Bundes ist die ›Europäische Stadt‹“, so der Städtebaubericht 2008 der Bundesregierung. Die von 26 Staaten der EU 2007 verabschiedete „Leipzig Charta für eine nachhaltige europäische Stadt“ führt den Begriff im Titel. Doch was ist die europäische Stadt? Liest man die politisch-programmatischen Papiere, so ist die europäische Stadt eine sozial integrierte, ökonomisch prosperierende, kulturell produktive und nachhaltige Stadt, kurz: eine schöne Utopie, wie sie sich wohl jeder überall auf der Welt so wünschen könnte. Aber wo bleiben dann die Besonderheiten dieses Stadttypus, die es rechtfertigen würden, ihn im Unterschied zu anderen als spezifisch europäisch zu definieren?

 

Eines ist allen Städten gemeinsam: Städtisches Leben beginnt als ein Schritt der Befreiung aus dem Naturzwang. Städte können erst dann entstehen, wenn die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung mehr Lebensmittel herstellt, als sie für ihren eigenen Unterhalt benötigt. Der erste Städter war der, der sich nicht mehr tagtäglich mit einer unkultivierten Natur ums eigene Überleben auseinandersetzen musste. Jenseits dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeit aber markiert die europäische Stadt in der über zehntausendjährigen Geschichte der Urbanisierung den abweichenden Fall. Was sich in dem kleinen Anhängsel an die asiatische Landmasse, in Europa, seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert zunächst in Griechenland herausgebildet hat, ist eine sehr junge und sehr besondere Form von Stadt.

 

Stadt ist eine gesellschaftliche Formation in räumlicher Gestalt, und jede Gesellschaft schafft sich ihre eigene Stadt. Die gesellschaftliche Formation, die in der europäischen Stadt räumliche Gestalt gewonnen hat, ist die bürgerliche Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist mit der europäischen Stadt entstanden, sie hat ihre räumlichen und sozialen Strukturen geprägt und der Stadtbürger ist ihre zentrale Figur. Das Bürgertum hat die europäische Stadt geschaffen. Die Umkehr dieses Satzes gilt auch: Ohne die europäische Stadt gäbe es das Bürgertum nicht. Mauer, Wall und Graben der mittelalterlichen Stadt umschlossen in Europa die Keimzelle einer neuen Gesellschaft der Stadtbürger, der Marktwirtschaft und der demokratischen Selbstverwaltung.

 

Europäische Stadtgeschichte ist über die Befreiung vom Naturzwang hinaus auch eine Geschichte politischer, ökonomischer und sozialer Emanzipation. Sie beginnt mit der griechischen Polis. Die Polis ist politisches Subjekt – Athen nach den Perserkriegen war eine Weltmacht –, und ihr Souverän ist der Stadtbürger. Das Wort Demokratie ist mit gutem Grund griechischen Ursprungs. In der griechischen Polis ist zum ersten Mal in der Geschichte eine Staatsverfassung realisiert worden, deren Logik nicht darauf gerichtet war, Herrschaft zu stabilisieren, sondern die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Die Polis ist mit dieser Logik identisch: „Die Stadt, die einem Mann gehört, ist keine Stadt“, so Haimon in Sophokles‘ Antigone. Es war die Freiheit von Männern, die einer schmalen kriegerischen Schicht von Sklavenhaltern angehörten, aber in ihnen ist die Figur des Stadtbürgers als des Souveräns der europäischen Stadt vorgeformt. Das erste Merkmal der europäischen Stadt ist die Stadt als demokratisch verfasstes, politisches Subjekt.

 

In der europäischen Stadt des Mittelalters wird die politische Emanzipation des Stadtbürgers ins Ökonomische erweitert. Max Weber hat das historisch Einmalige der europäischen Städte als politische Selbstverwaltung und Marktwirtschaft definiert: Im Zuge der Stadtgründungen im 11. Jahrhundert lösen sich die Städter aus feudalistischen Abhängigkeiten und verschwören sich zur Bürgerschaft einer Stadt. Zugleich treten sie aus den geschlossenen Kreisläufen der Hauswirtschaft heraus, bieten ihre Produkte auf Märkten an und kaufen auf Märkten, was sie selber benötigen. Die europäische Stadt des Mittelalters ist ein revolutionärer Ort, Ort der ökonomischen Emanzipation des Bourgeois zu freiem Tausch auf dem Markt und Ort der politischen Emanzipation des Citoyen zu demokratischer Selbstverwaltung.

 

Noch in einem dritten, sozialen Sinn ist die europäische Stadt zu einem Ort der Emanzipation geworden. Die Menschen, die im Mittelalter vom Land in die Städte zogen, befreiten sich nicht nur aus politisch und ökonomisch beengten Strukturen, sondern auch aus der persönlichen Abhängigkeit vom Feudalherrn und den unentrinnbaren sozialen Kontrollen von Sippe und dörflicher Nachbarschaft. Neben dieser Befreiung aus zwanghafter Enge sind dafür zwei weitere Entwicklungen entscheidend gewesen: die Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die moderne Großstadt.

Prägend für die bürgerliche Gesellschaft ist die Polarität einer öffentlichen Sphäre von Markt und Politik und einer geschützten privaten Sphäre von Intimität, Emotionalität und Körperlichkeit. Diese Polarität bestimmt als Polarität öffentlicher und privater Räume die räumliche Struktur der europäischen Stadt und ein entsprechend polarisiertes Verhalten des Städters. Die traditionelle islamische Stadt z. B. kennt keine Polarität öffentlicher und privater Räume. Keimzelle der islamischen Stadt ist zwar das private Haus, doch fehlt das Gegenüber des öffentlichen Raums. Deshalb bleibt der Stadtbewohner eingebunden in die Kontrollen von Sippe und religiöser Gemeinde. Die Polarität privater und öffentlicher Räume schwächt die soziale Kontrolle, denn sie erlaubt es einem jeden, selber darüber zu entscheiden, welcher Ausschnitt der eigenen Persönlichkeit sichtbar wird und was vor anderen verborgen bleibt.

 

Mit der modernen Großstadt, die sich im Verlauf der industriellen Urbanisierung herausbildet, ist eine dritte Voraussetzung für die soziale Emanzipation des Individuums gegeben. Gerade das, was die konservative Kritik an der Großstadt kritisiert, ihre Anonymität, ist Bedingung von Individualisierung: Weil einen in der großen Stadt niemand kennt, kann man hoffen, sein Leben mit dem Umzug in eine fremde Stadt oder auch nur mit dem Wechsel in einen anderen Stadtteil neu zu beginnen, eben weil man dort auf niemanden trifft, der einen auf die alte Identität verpflichten könnte. In jedem neuen Kontakt kann man versuchen, sich selber neu zu definieren. Die sich auch räumlich manifestierende Polarität einer öffentlichen und einer privaten Sphäre sowie die Unübersichtlichkeit und Anonymität der großen Stadt verhindern ein festes und lückenloses Sozialsystem, innerhalb dessen die Beziehungen unter den Individuen vordefiniert sind und in dem jeder alles von jedem weiß. Die europäische Stadt als Ort der politischen, ökonomischen und sozialen Emanzipation des bürgerlichen Individuums ist das zweite Element der europäischen Stadt.

 

Der wechselseitige Zusammenhang von Stadt und bürgerlicher Gesellschaft ist noch für ein drittes Merkmal der europäischen Stadt verantwortlich: Europäische Städte sind Orte steingewordener Erinnerung. Das hängt nicht nur mit ihrem Alter zusammen – anderswo gibt es sehr viel ältere Städte –, auch nicht mit der physischen Widerständigkeit ihrer Bausubstanz. Die andauernde Präsenz der Zeugnisse vergangener Epochen im Alltag des Städters hat vielmehr gesellschaftliche Gründe: Die europäische Stadt ist der Ort, an dem die moderne Gesellschaft entstanden ist. Im Gang durch eine europäische Stadt kann der Bürger der heutigen Gesellschaft sich seiner eigenen Geschichte vergewissern. Deshalb gibt es eine ökonomisch und politisch einflussreiche Schicht, die sich im Interesse der Wahrung ihrer eigenen historisch vermittelten Identität für die Bewahrung der historischen Substanz der europäischen Stadt einsetzt. Die Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters ist ein drittes Element der europäischen Stadt.

 

Die Stadt als demokratisch verfasstes Subjekt hat im Verlauf der Geschichte ihre Autonomie weitgehend verloren. Die freien Reichsstädte waren staatsähnliche Gebilde, doch auch eingebunden in das Reich. Die Stein-Hardenbergischen Reformen knüpften an diese Tradition an, und die kommunale Selbstverwaltung hat mit Art. 28 GG Verfassungsrang. Aber angesichts der Misere der Kommunalfinanzen, der zunehmend dichteren politischen Vorgaben von Bund und Ländern und der Erosion ihrer politischen Basis – unter anderem abzulesen an sinkender und hoch selektiver Beteiligung an Kommunalwahlen – droht die kommunale Selbstverwaltung zur leeren Hülse zu werden. Die wachsende Spaltung der Stadtgesellschaft und zunehmende soziale Ausgrenzung sind eine harte Verneinung der Stadt als Ort der Hoffnung auf ökonomische, politische und soziale Emanzipation. Die gebauten Zeugnisse der Geschichte sind durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs weitgehend vernichtet worden, und sie werden weiterhin im Zuge einer „zweiten Stadtzerstörung“ beseitigt durch rücksichtslose Investoren und Sanierungspolitiken. Die Politik könnte diesen Tendenzen einer Erosion der europäischen Stadt gegensteuern:

  • durch eine Finanzreform, die die Kommunen auch unter Bedingungen des Schrumpfens handlungsfähig hält;
  • durch eine Stärkung der Kompetenzen der kommunalen Selbstverwaltung;
  • durch eine Integrationspolitik, die sich bewusst ist, dass die Integration von Zuwanderern nur ein besonders sichtbarer Aspekt des allgemeinen Problems einer Integration der Stadtgesellschaft darstellt;
  • durch eine Politik, die die Balance findet zwischen Bewahrung des historischen Gedächtnisses der Stadt und den Anforderungen der Gegenwart, ohne künftige Entwicklungsmöglichkeiten zu verbauen.

 

Ohne eine solche Politik bliebe das Leitbild der europäischen Stadt nur eine rückwärtsgewandte Utopie.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Walter Siebel
Walter Siebel ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er ist Autor der Bücher „Die europäische Stadt“ und „Die Kultur der Stadt“.
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