Mit Kunst forschen

Stadtforschung im Rahmen des Kunstprojektes Migratourispace

Dass die Fotografie von einem Gegenstand der Forschung zu einem Werkzeug der Forschung wurde, stellt bereits Horst Bredekamp im Zusammenhang mit dem „Iconic Turn“ fest. Wie das allerdings wirklich funktionieren kann, wie das Visuelle als künstlerisches Bild Wissen schafft, stellt in jedem meiner Projekte eine neue Herausforderung innerhalb des Schaffensprozesses dar. Das aktuelle Kunst- und Forschungsprojekt „Migratourispace“ beschäftigt sich mit der Idee des Reisens als einer Annäherung an die Phänomene Migration und Tourismus. Dabei geht es um das Reisen von Bildern, Menschen und Räumen.

 

Migrations- und Tourismusforschung sind ungeachtet ihrer mobilen Forschungsobjekte lange Zeit weitgehend dem Ideal der Sesshaftigkeit verhaftet geblieben. Tourismus wurde meist als temporäre Auszeit aus einem Alltagsleben definiert. Touristinnen und Touristen wurden einer immobilen Lokalbevölkerung gegenübergestellt. Entsprechend galt Migration als vorübergehender Prozess der Wanderung von einem Ort der Sesshaftigkeit zu einem anderen. Es wurden nur die Konflikte zwischen der mitgebrachten Kultur der Migrantinnen sowie Migranten und der lokalen Kultur der Aufnahmegesellschaft beachtet.

 

„Migratourispace“ untersucht die Überlagerung von Migration und Tourismus. Raummigration meint Migration, bei der mit den Menschen auch Räume wandern. Tourismus meint nicht mehr Urlaub als Ausnahmezustand, sondern auch im Alltag integrierte Erlebnisse.

 

Die als Fallstudien ausgewählten Orte in Korea und Deutschland, das vietnamesische Großhandelszentrum Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg, das deutsche Dorf Dogil Maeul in Südkorea, stehen für das Spannungsfeld zwischen einer Migration kulturell kodierter räumlicher Kontexte und touristischen Praktiken.

 

Ein interdisziplinäres Team aus Künstlerinnen und Wissenschaftlern untersucht seit 2018 die Überlagerung und Wechselwirkung der Phänomene Migration und Tourismus in urbanen Kontexten und ihre Auswirkungen auf den städtischen Raum. Die durch den Corona-Lockdown bedingten Veränderungen verdeutlichen die touristischen Implikationen im Stadtraum. „Migratourispace“ fokussiert dabei mit den visuellen künstlerischen Methoden der Video- und Fotografie Raumbezüge, die durch gegenseitige Überlagerung der Phänomene Migration und Tourismus entstehen. Die sich abzeichnenden Raumlogiken und Handlungspraktiken werden zur Refiguration der sozialen Ordnung durch Prozesse des „Spacing“ und der mit damit verbundenen, wahrnehmungsbezogenen Syntheseleistungen in Beziehung gesetzt. Beide Phänomene weisen aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Bewegungsaktivität strukturelle Ähnlichkeiten auf und können als ein Mobilitätskontinuum im Raum verstanden werden. Die Imaginationen von Räumen, die Migration und Tourismus begründen, sind ein Motor gesellschaftlicher Refigurationsprozesse, die nicht konfliktfrei ablaufen.

 

Zentrale Fragestellung des Projektes ist die künstlerische, visuell-bildhafte Nachweisbarkeit der Refiguration von Räumen. Der innovative Forschungsansatz, den Raum als bildwissenschaftliche Grundlage für die Ablesbarkeit der Überlappung von Migration und Tourismus und ihre Einschreibung in die urbane Umwelt zu begreifen, bedingt eine interdisziplinäre Vorgehensweise. Mit künstlerischen Methoden der visuellen Feldforschung, topologischer Matrix und einem Bildatlas entsteht eine künstlerische Bestandsaufnahme dieser Schnittstellen anhand zweier Fallstudien in Deutschland und Korea:

 

Dong Xuan Center, Berlin Lichtenberg

 

Ehemalige vietnamesische Arbeitsmigranten der DDR gründeten in der Nachwendezeit vielfältige selbständige Existenzen: Kleider- und Lebensmittelgeschäfte, Imbisse und Restaurants prägen seitdem ganze Berliner Stadtteile. Der von dem Unternehmer Van Hien Nguyen gegründete Dong Xuan Center ist nach dem Großmarkt in Hanoi benannt. Die Organisation der Gewerbe und auch Warenanordnung folgt ebenfalls der in Hanoi üblichen Warenpräsentation. Dies verstehen wir als Raummigration im Sinne von kulturellen Praktiken und physisch erfahrbaren Räumen, die mit den Menschen wandern. Im vietnamesischen Großhandelscenter in Berlin findet man einerseits Waren aus dem asiatischen, indischen und neuerdings auch türkischen Raum, gleichzeitig repräsentiert er mit seinen Friseursalons, Nagelstudios und Restaurants für viele Vietnamesen auch ein Stück Hanoi in Berlin. Dieser Zusammenhang von vernaculärer Architektur und Identität erfährt eine weitere Bestätigung durch Touristen in Berlin, auf deren Sightseeing-Touren „Klein Hanoi in Lichtenberg“ ein exotischer Bestandteil ist.

 

Dogil Maeul, ein deutsches Dorf in Südkorea

 

Auf Initiative eines Lokalpolitikers entstand 2001 in Namhae-gun ein Dorf für koreanische Gastarbeiterinnen und -arbeiter, die aus Deutschland in die ehemalige Heimat zurückkehren wollen. Dies war einerseits eine Geste der Anerkennung an die ehemaligen Auswanderer, die durch ihr in Deutschland verdientes Geld ihre Familien in Südkorea unterstützten, andererseits war die deutsche Siedlung auch gleichzeitig als Touristenattraktion geplant. Der Landkreis erwarb das Land, entwickelte die Bauplätze und legte die Infrastruktur an. Zu den Baubedingungen gehört auch, dass die Häuser „deutsch“ aussehen sollen. Hier leben heute um die 60 Ehepaare, mit teilweise deutschen Partnern, alle im Rentenalter, in zweistöckigen Einfamilienhäusern, mit roten Walm- oder Satteldächern und Vorgärten. An den Wochenenden ist das Dorf ein beliebtes Ausflugsziel für koreanische Touristen.

 

Die Ergebnisse der künstlerischen Forschung werden in einer begehbaren Mehrkanal-Video-Installation ausgewertet und zugleich sinnlich erfahrbar gemacht. So sollen über ein Fachpublikum hinaus auch der Öffentlichkeit ungewöhnliche Blickwinkel zu den gesellschaftlich relevanten Themen Migration und Tourismus eröffnet werden.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

Stefanie Bürkle
Stefanie Bürkle ist Künstlerin und Professorin für Bildende Kunst an der TU Berlin.
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