Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Das vielfach zitierte Diktum des Soziologen Niklas Luhmann trifft auch für die DDR-Geschichtsschreibung zu: Unsere heutigen Vorstellungen über die realsozialistische Gesellschaft und die individuellen Spielräume im „Arbeiter- und Bauernstaat“ sind maßgeblich durch Medien geprägt. Filme lassen die DDR auf Kinoleinwänden und Fernsehbildschirmen auferstehen, in Buchläden stapeln sich DDR-Romane und Monografien, in Facebook-Gruppen feiern „Kinder der DDR“ die Vergangenheit und in Museen werden Plattenbauwohnungen maßstabgetreu rekonstruiert.
Der Forschungsverbund „Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung“ nimmt Medien mit DDR-Bezug in den Blick, untersucht ihre Entstehung, Transformation und Nutzung und fragt nach ihrem Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur. Der Begriff „deutsch-deutsch“ fällt hier nicht von ungefähr: Knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung dominiert im medialen und politischen Diskurs das „Diktaturgedächtnis“ – ein Erinnerungsnarrativ, das sich auf die Verbrechen und den Unterdrückungscharakter des SED-Herrschaftssystems beschränkt. In dieser eindimensionalen, von westdeutschen Deutungseliten geprägten Täter-Opfer-Geschichte finden sich viele ehemalige DDR-Bürger, die weder bei der Stasi noch in der Opposition waren, mit ihrem „ganz normalen“ Alltag nicht wieder. In diesem Spannungsfeld zwischen dem Diktatur- und dem Alltagsgedächtnis bewegt sich der Forschungsverbund und setzt sich zum Ziel, den Gedächtnisrahmen zu erweitern.
„Das mediale Erbe der DDR“ ist Teil einer Förderinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Der Verbund führt drei Standorte zusammen – die LMU München, die FU Berlin und das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam – und vereint Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik und Kommunikationswissenschaft.
Was gehört zum „medialen Erbe“, das 27 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vier Jahre lang präparieren? Das Untersuchungsspektrum ist breit gefächert.
Eins von 14 Projekten fragt, ob Menschen, die das Medienhandwerk in der DDR gelernt haben, Medien „anders“ machen als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Das Vorhaben analysiert, wie sich diese „andere“ Perspektive in ihrem Werk zeigt, und lässt die „Medienmenschen“ ihre Biografie selbst erzählen. Ein thematisch verwandtes Projekt beobachtet Lebens- und Werktransformationen von DEFA-Filmschaffenden, die in ihren Dokumentarfilmen in der späten Phase der DDR und über 1990 hinaus gesellschaftliche Transformationsprozesse abbildeten.
Weitere Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der sich wandelnden Medienlandschaft und der veränderten Mediennutzung. Wie wurde der Ostrock in den kapitalistischen bundesdeutschen Musikbetrieb integriert – und was ist dabei verloren gegangen? Wie veränderte sich die Lebenswelt in den neuen Bundesländern, als bekannte Sendungen und Gesichter von Fernsehbildschirmen verschwanden? Brauchten Menschen im Berlin der Nachwendezeit Medien, um an Lebensbewältigung und sozialer Identität zu arbeiten? Die ersten Interviewergebnisse offenbaren ganz unterschiedliche Nutzungsmuster in der Ost- und Westhälfte der Stadt: So gibt es den Ostberliner, der sich in den 1990ern über die mediale Darstellung der „Ossis“ ärgerte und um DT64 trauerte; aber auch den Mann aus Wilmersdorf, der beim Tagesspiegel blieb, um sich der Überlegenheit des Westens zu versichern; oder die Westberlinerin, die nach Pankow zog, dort ihren Freundeskreis erweiterte und deshalb die Berliner Zeitung zu lesen begann.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf medialen DDR-Repräsentationen. Unter den breit gefassten Medienbegriff fallen dabei auch Nutzungsumgebungen: das Internet, Schulen und Museen. Welche Narrative und Geschichtsbilder werden in sozialen Medien geteilt? Welches DDR-Bild vermitteln Schulbücher, Lehrerhandreichungen, Arbeitshefte, die – im Unterschied zu kurzlebigen Medien der Populärkultur – jeden heranwachsenden Menschen jahrelang begleiten? In einem geschichtsdidaktischen Projekt wird die Rolle der Großdeutungen wie „zweite deutsche Diktatur“ oder „Unrechtsstaat“ im Kontext einer wertebasierten Demokratiebildung untersucht. Zwei weitere Projekte untersuchen Museumsausstellungen als komplexe Medien, die mittels Objekten, Bildern, Texten und Filmen Geschichten erzählen. Auch in Museen, so die ersten Ergebnisse, überwiegt die diktaturzentrierte DDR-Erinnerung und die „Exotisierung“ von Ostdeutschen – die Zuschreibung einer grundlegenden Andersartigkeit, die in der frühen Nachwendezeit wurzelt. Die ersten Interviews mit Museumsgästen zeigen dennoch: Die Ausstellungen zur DDR-Geschichte dienen als Erinnerungsanlass und werden meistens für den Vergleich mit heutigen Entwicklungen genutzt – Stichworte: neue Mauern, Datenschutz und Überwachung.
Einen Einblick in den DDR-Alltag ermöglichen private Fotoalben und Schmalfilme. Das Online-Archiv „Open Memory Box“ fordert das herrschende Diktaturnarrativ heraus und zeigt 415 Stunden privater Filmsequenzen von 150 Familien aus der DDR: Geburtstage, Hochzeiten und Beerdigungen, Westbesuche, Weihnachtsfeiern und Urlaubsreisen zum Balaton.
„Das mediale Erbe der DDR“ baut Brücken zwischen Forschenden und Laien und steht für eine „offene Wissenschaft“. Auf dem projektbegleitenden Blog erscheinen regelmäßig Film- und Buchrezensionen, Veranstaltungsberichte, Alltagsbeobachtungen und Fundstücke aus der Öffentlichkeit. In Entwicklung ist ein allgemein zugängliches Online-Handbuch „Die DDR im Film“, das etwa 130 Serien, Spiel- und Dokumentarfilme unter die Lupe nimmt und einen Blick hinter die Kulisse der interessengeleiteten Filmproduktion, -förderung und -rezeption wagt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.