Als Ergebnis ist festzuhalten: Auch in der avisierten „klassenlosen Gesellschaft“ der DDR blieben Unterschiede zwischen den Bildungsschichten, zwischen der sogenannten „Intelligenz“ und den „Arbeitern und Bauern“ in Bezug auf kulturelle Interessen und Aktivitäten bestehen. Trotz vielfältiger Vermittlungsmaßnahmen gelang es nicht, Menschen aller sozialen Schichten und vor allem die avisierte Arbeiterschaft für komplexe Formen zeitgenössischer Kunst sowie klassischer Hochkultur nachhaltig zu interessieren, was dafür spricht, dass soziale Lebensverhältnisse immer auch unterschiedliche kulturelle Interessen ausbilden und die Idee einer „Hochkultur für alle“ sich als unrealistisch erweist. Das führte in der DDR-Kulturpolitik zur Erweiterung dessen, was als „legitime“ Kultur gefördert wird.
Zugleich kamen alle durch die systematische Einbindung in ihren Alltag mit vielfältigen Kunst- und Kulturformen in Berührung und erhielten erste Zugänge dazu. Kulturvermittlung war als durchgängige Folge vom Kindergarten über Schule, Jugendorganisationen und Betriebe integriert und der Kontakt zu unterschiedlichen Kunst- und Kulturformen brach damit auch im Erwachsenenalter nicht ab.
Erkenntnisse für den aktuellen Diskurs um kulturelle Teilhabe
Für den aktuellen Diskurs, wie eine chancengerechtere kulturelle Bildung implementiert werden kann, sind Erfahrungen aus der DDR-Kulturpolitik durchaus interessant, auch wenn diese immer vor dem Hintergrund eines autoritären Systems betrachtet werden müssen: Investiert wurde in ein flächendeckendes System von Vermittlung in den verschiedenen Alltagsbereichen und nicht nur in temporäre Projekte. Es bestanden strukturell verankerte Kooperationsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Vermittlungsinstanzen, zwischen Bildungs-, Freizeit-, Kultureinrichtungen, zwischen Betrieben und freien Kunstschaffenden und dauerhafte Patenschaften von Kindergärten, Schulen, Betrieben und Jugendhäusern mit Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Museen, Theater- und Konzerthäusern.
Systematisch und regelmäßig wurden die kulturellen Interessen und die Kulturnutzung empirisch erforscht, und es wurden daraus kulturpolitische Konsequenzen gezogen.
In der DDR wurden nicht nur Kinder und Jugendliche als Zielgruppen kultureller Bildung adressiert, sondern im Sinne eines lebenslangen Lernens auch alle Werktätigen, die man über die Betriebe und Ausbildungsstätten erreichte. Dadurch, dass oft professionelle Künstlerinnen und Künstler die Vermittlungsarbeit in den Zirkeln übernahmen, hatten diese nicht nur ein zusätzliches Einkommen, sondern es entstanden Kontakte zwischen Kunstschaffenden und Arbeitnehmern sowie wechselseitige Einblicke in ihre Lebens- und Schaffenswelten.
Auch in der DDR war die Versorgung der Bevölkerung mit Kunst und Kultur in ländlichen Räumen schwächer entwickelt als in den Großstädten. Dennoch wurde in allen ländlichen Regionen in Kulturhäuser investiert, die ein breites Angebot mit Gastspielen und Kulturzirkeln boten, in vielen Dörfern gab es eine Bibliothek und es wurden gemeinsame Busreisen zu Theater-, Konzert- und Museumsbesuchen durchgeführt.
Im Erwachsenenalter nicht kunstaffine Menschen noch für Kunst- und Kulturangebote zu interessieren und zu mobilisieren, ist für Kultureinrichtungen aufgrund vielfältiger Barrieren nur schwer möglich, wie Erkenntnisse der aktuellen Audience-Development-Forschung zeigen. Auch in der DDR beschäftigte man sich mit Barrieren kultureller Teilhabe und versuchte, diese abzubauen: Die kulturellen Angebote waren kostenlos oder sehr kostengünstig. Es gab ausreichend Zeit, diese wahrzunehmen, weil sie in den schulischen Zeitplan oder die Arbeitszeit integriert waren. Die Angebote wurden von Schulen, Arbeitgebern oder gesellschaftlichen Organisationen vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet. Man nahm daran in der Gruppe teil, also in vertrauter Begleitung, wodurch Schwellenängste abgebaut werden konnten. Die für die Mehrheit sehr wichtige soziale und gesellige Dimension von Kulturveranstaltungen war meistens integriert.
Die soziale Herkunft spielte eine weniger große Rolle für die Entwicklung kultureller Interessen aufgrund der vielfältigen Vermittlungsstrukturen, in die alle eingebunden waren sowie aufgrund der sehr viel längeren Zeit, die für solche Maßnahmen zur Verfügung stand in den Ganztagsschulen und den staatlich organisierten Freizeitaktivitäten. Die Vermittlungsangebote brachen nicht weg nach Ende der Schulzeit, sondern wurden in der Berufsausbildung und den Betrieben fortgesetzt.
Die Publikation der Forschungsergebnisse erscheint im Oktober 2020: Birgit Mandel/Birgit Wolf „Staatsauftrag: Kunst und Kultur für alle – Ziele, Programme und Wirkungen von Kulturvermittlung und kultureller Teilhabe in der DDR „ bei transcript.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.